Medizinische Versorgung unter Beschuss
Immer wieder geraten medizinische Einrichtungen bei kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen die Fronten. Dabei sterben Patient:innen, Ärzt:innen und Pflegekräfte. Auch Ärzte ohne Grenzen hat bei verschiedenen Vorfällen Mitarbeitende verloren – unter anderem, weil unsere Spitäler gestürmt oder bombardiert wurden. Die Todesfälle ereigneten sich in Afghanistan, Südsudan, Syrien, Jemen und der Zentralafrikanischen Republik.
Ein Luftangriff des US-Militärs zerstörte im Oktober 2015 unser Trauma-Spital in Kunduz, Afghanistan. Bei diesem grössten Einzelereignis wurden 42 Menschen getötet, darunter waren 14 unserer Mitarbeitenden. In der afghanischen Hauptstadt Kabul stürmten bewaffnete Gruppen im April 2020 unsere Entbindungsstation im Dasht-e-Barchi-Spital. Dabei kamen 16 Frauen und eine Hebamme ums Leben.
In Syrien werden von uns unterstützte Spitäler regelmässig bombardiert, und im Bürgerkriegsland Jemen sind es oft Rettungswagen, die attackiert werden. Bewaffnete Übergriffe auf unsere Gesundheitseinrichtungen gab es unter anderem im Sudan.
Angriffe durch das Militär und andere bewaffnete Gruppen
Angriffe auf die Gesundheitsversorgung sind nicht ausschliesslich dem Militär zuzuschreiben. Medizinisches Personal und Zivilisten werden auch Opfer wahlloser Gewalt durch bewaffnete Gruppierungen.
Nach gewaltvollen Übergriffen auf unsere Spitäler sahen wir uns in den vergangenen Jahren mehrmals gezwungen, die medizinischen Programme einzustellen und uns zurückzuziehen. In Folge gewalttätiger Handlungen gegen unsere Mitarbeitenden im Dezember 2020 fiel die schwere Entscheidung, unsere Aktivitäten im Gebiet Fizi im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo zu beenden.
Traurigerweise wurden auch einige unserer Patient:innen und Mitarbeitenden verletzt oder getötet. 2017 griffen bewaffnete Männer in der Zentralafrikanischen Republik Menschen an, die in unserem Spital in Batangafo Schutz vor der Gewalt suchten. Bei einem weiteren Vorfall wurde ein Baby in den Armen seiner im Spital in Zemio schutzsuchenden Mutter im Beisein unserer Mitarbeitenden erschossen.
Rettungswagen wurden von Bewaffneten angehalten. Die Männer bedrohten unsere Mitarbeitenden, schleiften Patient:innen aus dem Wagen und verwehrten ihnen jegliche medizinische Hilfe. Im Januar 2021 wurde ein ganz klar als MSF-Fahrzeug identifizierbarer Krankenwagen zwischen Douentza und Sévaré in Zentral-Mali gewaltvoll gestoppt. Sämtliche Insassen, darunter der Fahrer, verschiedene Patient:innen und medizinische Mitarbeitende, wurden sieben Stunden lang festgehalten. Einer der Patienten starb.
UNO-Resolution 2286
Die Zerstörung des Trauma-Zentrums in Kunduz und die verheerenden Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen in Syrien und dem Jemen führten im Mai 2016 zur Verabschiedung der Resolution 2286 des UN-Sicherheitsrats.
Ärzte ohne Grenzen hat sich immer dafür eingesetzt, dass Staaten die Versorgung von Kranken und Verletzten auf beiden Seiten einer Front gewährleisten. Die Resolution war notwendig. Mit ihr wurden die Rechtmässigkeit und der Schutzstatus von humanitärer und medizinischer Arbeit politisch bestätigt – zu einer Zeit, in der Gesundheitsdienstleistende tödlichen Bedrohungen durch Luftangriffe ausgesetzt waren. Bedrohungen, die teilweise sogar von Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrats oder deren Koalitionspartnern ausgingen.
Die Resolution 2286 weitet offiziell den Schutz der Gesundheitsversorgung in Konfliktgebieten aus. Gemäss dem internationalen humanitären Völkerrecht sind humanitäre und medizinische Mitarbeitende, Gesundheitsprogramme sowie Einrichtungen von humanitären Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen durch den Beschluss besser geschützt. Zudem wurde der Schutz von Spitälern näher definiert und gefestigt.
Fünf Jahre nach Verabschiedung der Resolution gehen die Angriffe auf medizinische Mitarbeitende und Einrichtungen jedoch weiter. Für Menschen, die in Konfliktzonen arbeiten, hat sich kaum etwas geändert. Nach wie vor werden Spitäler und humanitäre Mitarbeitende bedroht oder attackiert. Die Beschlussfassung hat zur Lösung der Problematik unserer Einsatzteams bisher nicht beigetragen.
Mit anderen Worten: Die Resolution schützt nicht diejenigen, für die sie geschaffen wurde. Staaten müssen ihre Bereitschaft, Verletzte, Kranke und medizinische Fachkräfte zu schützen, klarstellen und bekräftigen. Humanitäre und medizinische Hilfsorganisationen sehen sich mit einer zunehmenden Tendenz der Kriminalisierung ihrer Arbeit konfrontiert.
Was können wir tun?
Arbeitseinsätze in Kriegs- und Konfliktzonen sind nicht frei von Risiken. Das ist uns bewusst. Deshalb ergreifen wir Massnahmen, um die Gefahr von Angriffen durch Konfliktparteien zu senken.
Medizinethik und Verhandlung
Aus medizinethischen Gesichtspunkten ist die Verweigerung lebensrettender Hilfe inakzeptabel. Patient:innen, die in unsere Notaufnahme eingeliefert werden, erhalten eine Behandlung – unabhängig davon, wer sie sind und auf welcher Seite einer Front sie stehen oder leben.
Leider findet diese Sichtweise keine flächendeckende Zustimmung. Wir setzen uns dafür ein, der «Kriminalisierung» von medizinischer Versorgung in Kampfzonen entgegenzuwirken. Nach vielen innerstaatlichen Anti-Terrorismus-Gesetzen gibt jede Art der Hilfeleistung in Gebieten, wo «Terroristen» aktiv sind, Anlass zur Strafverfolgung. Oft sind solche Gebiete sehr schwer zugänglich.
Wo es möglich ist, in diesen – mehr oder minder schwer erreichbaren – Konfliktgebieten zu arbeiten, werden humanitäre Mitarbeitende andererseits regelmässig von bewaffneten Gruppen attackiert, entführt oder getötet.
Die Bedrohung, der humanitäre Hilfsorganisationen ausgesetzt sind, ist also ein zweischneidiges Schwert. Dennoch bleibt unsere Motivation, in Konfliktgebieten zu arbeiten, immer dieselbe: Wir möchten besonders bedürftigen Menschen eine lebensrettende medizinische Versorgung bieten. Daher appellieren wir an alle Konfliktparteien, unsere Gesundheitsleistungen in Kriegs- und Konfliktgebieten zuzulassen. Wir bestätigen allen involvierten Parteien, dass unser einziges Ziel die Gesundheitsversorgung von Kranken und Verletzten ist und wir keinerlei politische oder militärische Interessen verfolgen.
Verschiedene Massnahmen sorgen dafür, dass wir als Hilfsorganisation klar identifizierbar sind, damit Konfliktparteien wissen, wer wir sind. In Afghanistan und dem Jemen beispielsweise ist unser Logo klar auf unseren Fahrzeugen und Spitälern ersichtlich. Auch teilen wir proaktiv die Koordinaten unserer medizinischen Einrichtungen. Diese Mechanismen erfordern den Dialog mit Konfliktparteien und müssen kontinuierlich verhandelt, instandgehalten und überwacht werden.
Für unsere Arbeit ist es unerlässlich, die Unantastbarkeit und den Schutz medizinischer Hilfe sicherzustellen. Nur wenn wir Zugang zu allen Konfliktparteien haben, kann dieser Schutz gewährleistet werden. Vereinbarungen zur Konfliktvermeidung sind essenziell, um Angriffe zu vermeiden – und müssen von allen Seiten eingehalten werden.
Staaten sollten sämtliche erforderlichen Schritte einleiten, um den grösstmöglichen Schutz von Kranken und Verletzten sowie medizinischen und humanitären Mitarbeitenden zu ermöglichen.
Vorgehen nach einem Angriff
Indes geht die Gewalt gegen Gesundheitsmitarbeitende weiter. Nach Angriffen geht es darum, die Fakten zusammenzutragen und danach zu fragen, was genau passiert ist – und warum. Auch muss geklärt werden, ob unsere Teams ins Einsatzgebiet zurückkehren sollen und wie möglichen weiteren Angriffen vorgebeugt werden kann.
Handelt es sich um einen Angriff durch lokale oder nichtstaatliche bewaffnete Gruppen, gibt es kaum rechtliche Mittel, z. B. über Gerichte oder offizielle Ermittlungswege Antworten zu finden oder für Gerechtigkeit zu sorgen. Unsere Teams versuchen, direkt mit lokalen Führern oder den Gruppen selbst in Kontakt zu treten. Wir fragen sie nach den Gründen für den Angriff und beurteilen, ob wir in diesem Kontext weiterarbeiten können. Wir betonen auch unsere Neutralität und unsere Aufgabe, humanitäre Hilfe und medizinische Versorgung für alle Menschen zu leisten.
Wurde ein Angriff unter Beteiligung des Militärs oder einer staatlichen bewaffneten Gruppe verübt, ist eine unabhängige und unparteiische Tatsachenermittlung oft das Vorgehen der Wahl. Auch werden Massnahmen eingeleitet, um erneuten Angriffen vorzubeugen. Nach der Zerstörung unseres Spitals in Kunduz, Afghanistan, haben wir die Internationale Humanitäre Untersuchungskommission (International Humanitarian Fact-Finding Commission, IHFFC) gebeten, den Sachverhalt zu untersuchen.
Die Untersuchungskommission IHFFC, die kein UN-Gremium ist, wurde im Jahr 1991 im Rahmen des Genfer Abkommens, das bei Kriegen den Schutz von Personen regelt, ins Leben gerufen. Bei Verstössen gegen das humanitäre Völkerrecht ermittelt sie eigenständig. Jedoch verweigerten die USA eine Teilnahme an einer unabhängigen Untersuchung des Vorfalls in Kunduz – trotz unserer intensiven Lobbyarbeit.
Ermittlungen sind erforderlich, um die Verantwortung zu klären und den Opfern in irgendeiner Form Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Bestenfalls vor einem Gericht, in dem die möglichen Täter nicht gleichzeitig die Richter und Geschworenen sind oder ihnen nahestehen. 2016 wurde das von Ärzte ohne Grenzen unterstützte Shiara-Spital im Nordjemen bombardiert. Die Kriegskoalition zwischen Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten ernannte das von den USA und Grossbritannien unterstützte Joint Incidents Assessment Team zur Aufklärung des Vorfalls. Bisher ist es nicht gelungen, die für den Angriff verantwortlichen Parteien zur Rechenschaft zu ziehen.
Nach Vorfällen wie diesem prüft und bewertet Ärzte ohne Grenzen das Geschehen auch selbst aktiv und veröffentlicht die Ergebnisse. Unabhängig davon, ob die Sachverhalte nach einem Angriff geklärt werden können, müssen wir in manchen Fällen konstatieren, dass der Arbeitskontext zu gefährlich ist. Verschiedene Male mussten wir die schmerzliche Entscheidung treffen, unsere Teams aus dem jeweiligen Gebiet zurückzuziehen – mit der Konsequenz, dass notleidenden Menschen dadurch der Zugang zu medizinischer Hilfe verwehrt bleibt.
Nach dem Angriff auf unsere Geburtsklinik in Dasht-e-Barchi entschieden wir, unsere Arbeit dort zu beenden. Zu gross war das Risiko, bei weiteren Angriffen erneut Patient:innen und Mitarbeitende zu verlieren. Für Frauen in West-Kabul und angrenzenden Gemeinden, von denen viele der Hazara-Minderheit angehören, bedeutet das ein Wegfall von professionellen prä- und postnatalen Leistungen. Eine Situation, die im Hinblick auf die hohen Mütter- und Kindersterblichkeitsraten in Afghanistan alles andere als ideal ist.