Neue Erkenntnisse: Lagerung von Insulin auch bei Raumtemperatur möglich
© Karine Pierre/Hans Lucas
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Ein Team aus Mitarbeitenden der Universität Genf und von Ärzte ohne Grenzen konnte zeigen, dass eine geöffnete Insulinampulle vier Wochen lang bei 37°C gelagert werden kann, ohne dass die Wirksamkeit beeinträchtigt wird.
Eine Person, die an Diabetes leidet, muss sich an einen individuellen Behandlungsplan halten und täglich Insulin spritzen. Die Dosis hängt von der Ernährung und körperlichen Aktivität ab. Patient*innen verfügen über einen Vorrat an Insulinampullen, die von der Herstellung bis zur Verwendung gemäss den pharmazeutischen Richtlinien gekühlt gelagert sein müssen. In gewissen Regionen der Welt, wie zum Beispiel in Subsahara-Afrika, haben nicht alle Menschen einen Kühlschrank. Diabetiker*innen sind deshalb gezwungen, für die Injektionen jeden Tag eine Klinik aufzusuchen. Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) hat deshalb mit der Universität Genf zusammengespannt, um die Lagerung von Insulin unter realen Bedingungen zu testen. Konkret handelte es sich um Temperaturen zwischen 25°C und 37°C während einer Dauer von vier Wochen, was der üblichen Verwendungsdauer einer Ampulle entspricht. Die Ergebnisse, die in der Online-Fachzeitschrift PLOS ONE veröffentlicht wurden, haben gezeigt, dass die Wirksamkeit im Vergleich zu gekühlt gelagertem Insulin gleichbleibt. Dies ermöglicht es Diabetiker*innen, mit ihrer Krankheit selbstbestimmt umzugehen; die ständigen Klinikbesuche fallen weg.
Beim Typ-1-Diabetes ist der Blutzuckerspiegel erhöht. Es können so schwere Komplikationen wie Koma, Erblindung, Verlust von Gliedmassen oder der Tod auftreten. Die Krankheit kann heute gut behandelt werden, doch es braucht eine tägliche Insulintherapie, mithilfe derer der Traubenzucker im Blut in die Zellen geschleust wird. «Gemäss den aktuellen pharmazeutischen Richtlinien müssen die Insulinampullen permanent zwischen 2° und 8°C gelagert werden, die Kühlkette darf also nicht unterbrochen werden», sagt Philippa Boulle, Expertin für chronische Krankheiten bei Ärzte ohne Grenzen. «Das ist an gewissen Orten natürlich schwierig, insbesondere in Flüchtlingslagern, wo die Familien keinen Kühlschrank haben.» Gewisse Diabetiker*innen müssen deshalb für die Injektionen jeden Tag weite Strecken auf sich nehmen. Für einige bedeutet dies sogar, dass sie deswegen nicht mehr arbeiten können. «Wir haben uns an das Team von Leonardo Scapozza, Professor der Pharmawissenschaften an der Universität Genf, gewandt, um die Lagerbedingungen von Insulin gründlich zu analysieren, ohne dass dabei Einbussen bei der Wirksamkeit entstehen», fährt Boulle fort.
Eine Studie unter realen Bedingungen
Die Expert*innen haben festgestellt, dass die Temperaturen in einer Unterkunft im Flüchtlingslager Dagahaley, im Norden Kenias, zwischen 25°C nachts und 37°C tagsüber schwanken. Genau diese Bedingungen haben sie im Labor reproduziert und dort die Lagerung von Insulin getestet. «Angebrochene Ampullen werden in der Regel in vier Wochen aufgebraucht. Wir haben deshalb für unsere Untersuchungen dieselbe Dauer verwendet – einmal mit Ampullen, die bei Umgebungstemperaturen Subsahara-Afrikas gelagert wurden und einmal mit gekühlten Ampullen», erklärt Leonardo Scapozza. Mit der Methode der Hochleistungsflüssigkeitschromatographie hat das Team der Universität das Insulin-Protein analysiert. «Das Risiko besteht, dass das Insulin-Protein unter Hitzeeinwirkung eine Art Flocken bildet, die nicht mehr flüssig sind und deshalb nicht mehr injiziert werden können», präzisiert der Forscher.
Kein Unterschied zwischen den Lagerungsbedingungen
Die Ergebnisse der Untersuchungen zeigen, dass die Insulinpräparate, die einer schwankenden Raumtemperatur ausgesetzt waren, einen Verlust von nicht mehr als 1 % aufweisen – genau wie die Präparate, die während den vier Wochen kühl gelagert wurden. «Das Gesetz für pharmazeutische Präparate erlaubt einen Verlust von bis zu 5 %. Wir liegen also weit darunter», freut sich Leonardo Scapozza.
Ein weiterer wichtiger Punkt: Die Forschenden der Universität Genf fanden auch heraus, dass die Insulinaktivität völlig intakt blieb. Um dies zu überprüfen, testeten sie Insulinproteine an Zellen und verglichen deren Reaktion mit freiwillig deaktiviertem Insulin. «Schliesslich untersuchten wir mit Hilfe der Gruppe von Professor Michelangelo Foti Insulinampullen direkt aus dem Dagahaley-Lager mit dem gleichen Ergebnis: Das Insulin war perfekt verwendbar», sagt Scapozza.
Ergebnisse, die den Alltag von Tausenden von Menschen verändern können
Damit beweist eine wissenschaftliche Studie erstmals, dass Insulinampullen auch bei heissem Wetter vier Wochen lang verwendet werden können, ohne dass sie im Kühlschrank aufbewahrt werden müssen. «Diese Ergebnisse können als Grundlage dienen, um die Sicht auf den Umgang mit Diabetes in ressourcenarmen Umgebungen zu verändern», erklärt Boulle. Menschen mit Diabetes müssten auf diese Weise nicht mehr täglich für ihre Insulininjektionen ins Spital kommen und könnten wieder ein normales Leben führen. «Natürlich braucht es begleitend dazu Aufklärungs- und Unterstützungsmassnahmen, damit Betroffene in der Lage sind, ihren Blutzuckerspiegel zu messen und die richtige Menge Insulin zu spritzen. Um dieses Ziel zu unterstützen, hoffen wir deshalb auf die Entwicklung einer Konsenserklärung zur häuslichen Anwendung von Insulin bei warmen Temperaturen ohne Kühlung, die von der WHO genehmigt wird», so Boulle.
© Karine Pierre/Hans Lucas