Sudan: Ein Jahr nach Ausbruch des Krieges
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Der Sudan ist von einer der weltweit schwersten Krisen der vergangenen Jahrzehnte gezeichnet. Millionen Menschen sind davon betroffen, dass die Kriegsparteien den Zugang für humanitäre Hilfe und die Lieferung von Hilfsgütern absichtlich blockieren. Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF) fordert rasche Ausweitung von humanitärer Hilfe
«Die Menschen im Sudan leiden enorm unter den anhaltenden schweren Kämpfen, die oft mitten in städtischen Wohngebieten und Dörfern stattfinden. Das Gesundheitssystem und die Grundversorgung sind weitgehend zusammengebrochen. Nur 20 bis 30 Prozent der Gesundheitseinrichtungen im Sudan sind noch funktionsfähig. Die Gesundheitsversorgung der Menschen im ganzen Land ist extrem eingeschränkt», sagt Jean Stowell, Landeskoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen im Sudan.
Anlässlich des Treffens von Regierungen und Beamten, Hilfsorganisationen und Gebern am 15. April in Paris, bei dem Möglichkeiten zur Verbesserung der humanitären Hilfe erörtert werden sollen, ruft Ärzte ohne Grenzen dringend dazu auf, die humanitäre Hilfe unverzüglich zu verstärken. Die Vereinten Nationen und ihre Mitgliedstaaten müssen ihre Anstrengungen verdoppeln, einen sicheren und ungehinderten Zugang auszuhandeln und die humanitäre Unterstützung auszubauen, damit sich die ohnehin katastrophale Lage nicht noch weiter verschlechtert.
In von Kampfhandlungen betroffenen Gebieten haben Teams von Ärzte ohne Grenzen eine Vielzahl von Frauen, Männern und Kindern behandelt. Ihre Verletzungen reichten von Schrapnellwunden bis zu Verletzungen durch Explosionen und Schüsse. Seit April 2023 wurden in den von Ärzte ohne Grenzen unterstützten Einrichtungen mehr als 22 800 Menschen mit Kriegsverletzungen behandelt und mehr als 4600 chirurgische Eingriffe vorgenommen, von denen viele im Zusammenhang mit der Gewalt in Khartum und Darfur standen. In Wad Madani, einer Stadt, die von drei aktiven Frontlinien umgeben ist, behandeln Mitarbeitende der Organisation derzeit monatlich rund 200 Patient:innen, die gewaltbedingte Verletzungen erlitten haben.
Nach Angaben der Vereinten Nationen mussten bereits mehr als acht Millionen Menschen fliehen und wurden teils mehrfach vertrieben. Schätzungsweise 25 Millionen Menschen – die Hälfte der Bevölkerung des Landes – sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.
«Jeden Tag sehen wir Patient:innen, die durch die Folgen der Gewalt ums Leben kommen. Kinder, die aufgrund von Mangelernährung und fehlenden Impfstoffen sterben, Frauen mit Komplikationen nach Entbindungen unter schwierigen Umständen, Patient:innen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, und Menschen mit chronischen Erkrankungen, die keinen Zugang zu ihren Medikamenten haben», sagt Stowell. «Trotz all dieser Fälle gibt es eine äusserst beunruhigende Lücke in der humanitären Unterstützung.»
Obwohl Ärzte ohne Grenzen gut mit dem Gesundheitsministerium zusammenarbeitet, hat die sudanesische Regierung den Zugang zu humanitärer Hilfe absichtlich erschwert, vor allem in Gebieten, die sich ausserhalb ihrer Kontrolle befinden. So hat sie systematisch Reisegenehmigungen für humanitäre Helfer:innen und Hilfslieferungen verweigert, die die Frontlinien überqueren wollten. Zudem hat sie die Nutzung von Grenzübergängen eingeschränkt und ein äusserst restriktives Verfahren für die Erteilung von Visa für humanitäre Helfer:innen eingeführt.
«Aktuell ist unsere grösste Herausforderung der Mangel an medizinischen Hilfsgütern. Uns geht das chirurgische Material aus, und wir stehen kurz davor, die Arbeit einzustellen, wenn nicht bald Nachschub eintrifft», sagt Ibrahim*, ein Arzt von Ärzte ohne Grenzen, der in Khartum arbeitet. Die Hauptstadt steht seit sechs Monaten unter einer Blockade. Eine ähnliche Situation herrscht seit Januar in der Stadt Wad Madani vor.
In den von den Rapid Support Forces (RSF) kontrollierten Gebieten wurden in den ersten Monaten des Konflikts häufig Gesundheitseinrichtungen und Lagerhäuser geplündert. Es kommt weiterhin regelmässig zu Überfällen auf Autos. Darüber hinaus wurde medizinisches Personal schikaniert und verhaftet.
In schwer zugänglichen Gebieten wie Darfur, Khartum oder Al-Dschasira ist Ärzte ohne Grenzen oft die einzige oder eine der wenigen internationalen Organisationen vor Ort. Der Bedarf übersteigt aber die Kapazitäten von Ärzte ohne Grenzen bei weitem. Selbst in besser zugänglichen Gebieten wie den Staaten Weisser Nil, Blauer Nil, Kassala und Al-Kadarif ist die Hilfe insgesamt ein Tropfen auf den heissen Stein.
Ein Beispiel ist die katastrophale Mangelernährungskrise im Camp Samsam in Nord-Darfur, wo das Welternährungsprogramm seit Mai 2023 keine Nahrungsmittel mehr verteilt hat. Fast ein Viertel (23 Prozent) der Kinder, die Teams von Ärzte ohne Grenzen dort im Januar untersuchten, litten an akuter Mangelernährung, sieben Prozent waren schwer mangelernährt. 40 Prozent der schwangeren und stillenden Frauen litten an Mangelernährung und die Sterblichkeitsrate in dem Lager war mit 2,5 Todesfällen pro 10 000 Menschen pro Tag extrem hoch.
Ärzte ohne Grenzen fordert die Kriegsparteien auf, das humanitäre Völkerrecht und die humanitären Resolutionen der Erklärung von Dschidda einzuhalten, indem sie Mechanismen zum Schutz der Zivilbevölkerung einrichten und einen sicheren humanitären Zugang zu allen Gebieten des Sudan ohne Ausnahme gewährleisten, einschliesslich der Aufhebung von Blockaden. Die Vereinten Nationen müssen angesichts dieser enormen Krise mutiger agieren und dazu beizutragen, eine schnelle und massive Ausweitung der humanitären Hilfe zu ermöglichen. Ärzte ohne Grenzen appelliert ausserdem an die Geberländer, die Mittel für humanitäre Hilfe im Sudan aufzustocken.
*Name geändert
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