Sudan, El Geneina: Rund 900 Verletzte sind in den vergangenen Tagen im Tschad angekommen
© Johnny Vianney Bissakonou/MSF
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In den vergangenen vier Tagen haben fast 900 Verwundete und 15 000 sudanesische Geflüchtete aus El Geneina und Umgebung die tschadische Stadt Adré erreicht. Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF) liegen Berichte über Menschen vor, die während der gefährlichen Flucht aus der Stadt beschossen und getötet wurden. Die Organisation fordert sämtliche bewaffneten Gruppen in und um El Geneina auf, den Schutz der Zivilbevölkerung zu gewährleisten und sichere Fluchtwege aus der Stadt zu ermöglichen.
Seit fast zwei Monaten ist El Geneina blockiert, es herrscht massive Gewalt. Die Stadt liegt etwa 35 km von der tschadischen Grenze entfernt, und Tausende Menschen versuchen, der Belagerung und den Angriffen zu entkommen.
«Am Mittwochabend, dem 14. Juni 2023, wurde der Gouverneur von West-Darfur getötet. In diesem Moment wussten wir, dass sich die Situation weiter verschärfen würde. El Geneina zu verlassen, war eine kollektive Entscheidung der Bevölkerung», beschreibt die 25-jährige Nour die Lage. Sie erreichte das Spital in Adré am Donnerstag, dem 15. Juni.
Die meisten von uns flohen zu Fuss in den Nordosten von El Geneina, aber viele wurden unterwegs erschossen.
«Ich sah Tote und Verwundete auf dem Boden liegen. Wie viele es genau waren, weiss ich nicht. Der einzige Ausweg führte in westliche Richtung. Deshalb machten sich die Menschen auf nach Adré im Tschad. Die Reise barg jedoch viele Gefahren, wir waren völlig ungeschützt und wurden angegriffen. Am Donnerstag um 11 Uhr schoss mir ein bewaffneter Mann in der Nähe der Stadt Shukri ins Gesicht. Gott sei Dank habe ich überlebt. Zurzeit werde ich im Spital von Adré behandelt.»
Schiessereien sind nur eine von vielen Gefahren, denen Flüchtende aus El Geneina ausgesetzt sind. Die 18-jährige Salma* floh am Donnerstagmittag, 15. Juni, mit ihren zwei Schwestern vor der Gewalt in ihrer Stadt. Unterwegs wurden sie von einem Kleinbus angehalten, sechs Männer stiegen aus, alle bewaffnet. Sie zerrten Soadd* von ihren verängstigten Schwestern weg und vergewaltigten sie. «Sie hielten sie einige Zeit im Bus fest. Als sie fertig waren, warfen sie sie aus dem Bus und fuhren weg. Meine Schwester ist erst 15 Jahre alt», sagt Salma.
Soadds Gesundheitszustand ist kritisch. Sie wird derzeit im Spital von Adré medizinisch versorgt und kämpft um ihr Leben. Alle drei Schwestern sind traumatisiert. Nicht nur aufgrund der Gewalt, die ihnen angetan wurde, auch die Tatsache, dass sie während dieser Krisenzeit von ihren Eltern getrennt sind, lastet schwer. Kontakt zu den Eltern haben sie keinen. Ihre Mutter befindet sich derzeit in Nyala. Wie es dem Vater geht, weiss niemand.
Seit fast zwei Monaten ist El Geneina, die Hauptstadt des Bundesstaates West-Darfur, Schauplatz von Kampfhandlungen. Auslöser waren Zusammenstösse zwischen den sudanesischen Streitkräften (SAF) und den Rapid Support Forces (RSF), die am 15. April in Khartum ausbrachen und sich auf andere Bundesstaaten ausweiteten. Die Unruhen sind zu einem unkontrollierbaren Chaos in El Geneina ausgewachsen. Kämpfe zwischen den Gemeinschaften, an der Jugendliche der Masaliten und der arabischen Stämme beteiligt sind, fachen das Feuer weiter an.
«Die Gewalt eskaliert, und die Menschen leben in ständiger Angst, Zielscheibe davon zu werden», so Konstantinos Psykakos, unser scheidende Projektkoordinator von Ort. In den letzten zwei Monaten war er in Adré nahe der Grenze zur Stadt El Geneina im Einsatz und wartete darauf, dass sein Team Zugang zur Stadt bekommen würde. Vergebens.
Augenzeugenberichte gibt es viele. Patient:innen, die im Spital von Adré im Tschad behandelt werden, berichteten unseren Teams von Massentötungen, Vertreibung, Plünderungen. Unter ihnen sind Frauen, die allein mit ihren Kindern die Flucht ergriffen, und Menschen, die Leichen auf den Strassen liegen sahen.
Nour erinnert sich an die vergangenen Wochen in El Geneina. Es war ein Kampf ums Überleben: «Niemand durfte in die Stadt rein oder aus ihr hinaus. Trinkwasser hatten wir keines, bewaffnete Gruppen hatten den Zugang unterbrochen. Die Menschen versuchten, sauberes Wasser aus fliessenden Gewässern zu holen, aber überall lauerten Scharfschützen. Sie kamen mit Pickups und Motorrädern in die Viertel, voll bewaffnet mit Maschinengewehren auf ihren Pickups. Sie töteten jeden, der ihnen über den Weg lief, plünderten Häuser und brannten ganze Stadtviertel nieder.
Die 27-jährige Salima floh allein mit fünf Töchtern und zwei Söhnen, nachdem sie in der Nähe ihres Hauses angeschossen worden war und sich dabei mehrere Brüche im rechten Bein zuzog. «Das geschah am Mittwoch, dem 14. Juni. Ein freundlicher Mann brachte mich und meine Kinder daraufhin in seinem Pickup nach Adré im Tschad. Nach Hause zurück traue ich mich nicht. Gerade geschieht das Undenkbare: Männer und Jungen werden getötet. Manchmal lassen die bewaffneten Männer die Frauen fliehen, manchmal nicht.» Den Kontakt zu ihrem Mann hat Salima im Chaos der Gewalt verloren. Wo er sich aufhält, weiss sie nicht.
Ärzte ohne Grenzen ruft dazu auf, Zivilist:innen zu schützen und sichere Fluchtwege aus der Stadt zu ermöglichen.
* Namen geändert
Ärzte ohne Grenzen appelliert an alle Konfliktparteien in und um El Geneina, Zivilbevölkerung und Infrastruktur zu verschonen. Menschen, die die Stadt verlassen wollen, dürfen nicht an der Flucht gehindert werden. Die Organisation ruft zudem dringend dazu auf, humanitären Teams den Zugang zur Stadt zu ermöglichen und bei der Versorgung verwundeter und kranker Menschen Unterstützung zu leisten.
© Johnny Vianney Bissakonou/MSF