Arbeitsmigrant:innen im Libanon: So leidet ihre Gesundheit unter dem Kafala-System
Libanon5 Min.
2020 eröffnete Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) eine Klinik in Beirut, um auf die gestiegenen Bedürfnisse von Arbeitsmigrant:innen im Libanon zu reagieren. Unsere Teams bieten dort kostenlose medizinische Dienste an und unterstützen Patient:innen im Bereich psychische Gesundheit. Drei Jahre sind seither vergangen. An den desaströsen Auswirkungen des Kafala-Systems auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen hat sich jedoch noch nichts geändert.
Ein ganzes Jahr dauerte es, bis Berna* es schaffte, ihrem Arbeitgeber zu entfliehen. Die Bedingungen in ihrem Haushalt lassen sich kaum in Worte fassen: Die junge Frau schuftete rund um die Uhr, sie wurde geschlagen und misshandelt. Kontakte zur Aussenwelt hatte sie kaum noch und bekam viel zu wenig zu essen. En Nachbar half ihr bei der Flucht. Ihren Reisepass und alle ihre Habseligkeiten liess sie in der Eile zurück. Bei unseren Teams im Libanon erhielt sie medizinische und psychologische Hilfe.
Die Zeichnerin Raphaelle Macaron aus Beirut hat eine Woche in unserer Klinik in Beirut verbracht. Daraus entstand ein Comic über das Leben der Arbeitsmigrant:innen im Kafala-System. Den gesamten Comic in Englisch gibt es hier:
Das Kafala-System: einzige legale Möglichkeit für Arbeitsmigrant:innen
Rund 135 000 Arbeitsmigrant:innen leben derzeit im Libanon. Die meisten von ihnen stammen aus Äthiopien, Bangladesch, Sierra Leone, Sri Lanka und den Philippinen. In der Regel sind es Frauen, die in Privathaushalten putzen, kochen und Kinder versorgen. Sie arbeiten im Rahmen des Kafala-Systems – die einzige legale Option, die Arbeitsmigrant:innen im Libanon angeboten wird. Dabei diktieren die Arbeitgeber:innen sämtliche Bedingungen, was das Risiko für Ausbeutung und Missbrauch immens erhöht. Zudem haben die Frauen während ihren Einsätzen nur sehr eingeschränkt Zugang zur Gesundheitsversorgung.
Das tun unsere Teams seit 2020
Seit 2020 verfolgt Ärzte ohne Grenzen einen multidisziplinären Ansatz, um den wachsenden Bedürfnissen der Arbeitsmigrant:innen im Libanon gerecht zu werden. In Beirut bietet unser Team medizinische Beratungen, verschreibt und verteilt Medikamente, versorgt Wunden und führt kleinere chirurgische Eingriffe durch. Bei Bedarf werden Patient:innen an medizinische Partnereinrichtungen überwiesen.
Bei den meisten Patient:innen handelt es sich um Frauen. Oft leben und arbeiten sie unter schlechten sanitären Bedingungen. Das gefährdet ihre Gesundheit und kann zu Komplikationen führen.
2022 hielten unsere Teams 7686 Sprechstunden ab. Die meisten Patient:innen stellten sich mit Einschränkungen des Bewegungsapparats, Magen-Darm-Beschwerden, Atemwegserkrankungen oder nicht übertragbaren Krankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck vor.
Die Inflation und die steigenden Transportkosten erschweren den Zugang zu Gesundheitsdiensten zusätzlich. Viele Menschen entscheiden sich dazu, ihr Geld für Lebensmittel statt für medizinische Leistungen auszugeben.
Seit 2023 sind unsere medizinischen Teams daher in verschiedenen Vierteln von Beirut sowie im Gouvernement Berg-Libanon im Einsatz. Dort leben hauptsächlich Migrant:innen, die weitgehend von der Gesundheitsversorgung abgeschnitten sind.
Die meisten unserer Patient:innen, die nicht bei ihren Arbeitgeber:innen leben, kommen in unhygienischen oder überfüllten Behausungen unter. So eine Situation drückt auf die Seele – und viele Betroffene legen destruktive Verhaltensweisen an den Tag, um sie zu überstehen.
Unsere Teams bietet psychotherapeutische Einzel- und Gruppensitzungen sowie psychiatrische Betreuung an. 2022 führten sie 1471 Beratungen im Bereich psychische Gesundheit durch. Die Patient:innen kamen mit Psychosen, Depressionen, Traumata oder Angstzuständen zu uns. Meistens standen ihre psychischen Erkrankungen direkt mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen in Zusammenhang.
«Viele unserer Patient:innen haben traumatische Erlebnisse hinter sich, sei es im Libanon oder auf der Reise dorthin. Sie berichten uns von ihren finanziellen Schwierigkeiten im Alltag – aber auch von Gewalt, Zwangsarbeit und Folter», eklärt Nour weiter.
Engagement für Migrant:innen und mit Interessensverbänden
Die Arbeitsmigrant:innen im Libanon kommen aus ganz Afrika, Asien und anderen Ländern und sprechen verschiedene Sprachen, von Amharisch bis Singhalesisch. Unser Gesundheitspromotionsteam engagiert sich in den verschiedenen Gemeinschaften, baut Kontakt zu den Hausangestellten auf und versucht, ihr Vertrauen zu gewinnen.
«Bei unserem Ansatz stehen die Patient:innen im Fokus. Deshalb ist es so wichtig, die Gemeinschaften aktiv miteinzubeziehen und transparente, vertrauensvolle Beziehungen zu ihnen zu unterhalten», erklärt Dilshad Karaman, der für die Gesundheitsförderung verantwortlich ist. «Wir stehen mit den Vertreter:innen in Kontakt und erkundigen uns nach ihren Bedürfnissen und Sorgen. So verleihen wir ihnen eine Stimme.» In unseren Teams arbeiten auch Dolmetscher:innen für Bengali, Singhalesisch, Amharisch oder Französisch. Sie stehen Patient:innen zur Seite, die weder Arabisch noch Englisch sprechen. Beim Zugang zu medizinischen Leistungen soll und darf Sprache keine Hürde sein.
Im Libanon, insbesondere in Beirut, unterstützen mehrere von Migrant:innen geführte Organisationen wie Egna Legna oder andere libanesische Vereinigungen Arbeiter:innen, indem sie ihnen rechtlichen Beistand und finanzielle Unterstützung gewähren und sich ganz generell für sie einsetzen. Unsere Teams arbeiten mit diesen Gemeindeorganisationen zusammen, nehmen an Schulungen teil, sorgen für den Aufbau lokaler Kapazitäten und fördern das Bewusstsein für die Problematik. Zudem finden Erste-Hilfe-Schulungen zu Traumata und psychischer Gesundheit bei Arbeitsmigrant:innen statt.
Die Tücken des Kafala-Systems
Im Rahmen des Kafala-Systems sind die Arbeitgeber:innen (auch «Kafeel» genannt) gesetzlich verpflichtet, ihre Hausangestellten medizinischen zu versichern. Dadurch ist jedoch nur der Spitalaufenthalt bei Arbeitsunfällen abgedeckt. Allgemeine medizinische oder psychologische Behandlungen sowie Kosten für Medikamente sind nicht inbegriffen. Der Zugang zu Gesundheitsdiensten ist für die meisten der rund 135 000 Arbeitsmigrant:innen im Libanon demnach äusserst begrenzt.
Seit 2019 hält eine mehrdimensionale Krise den Libanon fest im Griff. Sie verschärft die Situation der Arbeitsmigrant:innen weiter und wirkt sich auf ihre körperliche und psychische Gesundheit aus. Viele Arbeiter:innen haben ihren legalen Status verloren. Durch die angespannte wirtschaftliche Lage bleiben Lohnzahlungen immer öfter aus, und Ausbeutung und Gewalt treiben Angestellte in die Flucht. Ohne offizielle Dokumente ist es jedoch schwierig, erneut Arbeit zu finden und den Lebensunterhalt zu bestreiten. Dies wiederum schränkt die Chancen auf angemessene medizinische und psychosoziale Unterstützung weiter ein.
Die Lockdowns der Covid-19-Pandemie haben die Situation nur noch verschlimmert und die strukturellen Lücken im Geschäft mit Arbeitsmigrant:innen offengelegt. Viele Arbeitgeber:innen zahlten keine Löhne mehr, andere setzten ihre Hausangestellte von einem Tag auf den anderen auf die Strasse – oder vor die Botschaften ihrer Heimatländer. Viele Menschen wurden obdachlos, die Lebensbedingungen in den Gemeinschaftsunterkünften verschlechterten sich durch den massiven Zustrom drastisch. Viele Arbeitnehmer:innen, die in ihr Heimatland zurückkehren wollten oder sollten, konnten den Libanon ohne die erforderlichen Dokumente nicht verlassen.
«Das Kafala-System muss dringend reformiert werden», erklärte Syam. «Jeder Mensch hat das Recht auf medizinische Versorgung – ganz unabhängig vom rechtlichen Status.»
Das Kafala-System muss dringend reformiert werden. Jeder Mensch hat das Recht auf medizinische Versorgung – ganz unabhängig vom rechtlichen Status.