Auf dem Weg der Genesung: Geschichten unserer Patient:innen in der Ukraine
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«Vor sechs Monaten wurde alles zerbombt – das Gesundheitszentrum, die Apotheke, die ganze Infrastruktur war zerstört... und dennoch war es nicht das Ende», so Liudmyla Karatsiuba. «Wir bauten Häuser, stärkten unsere Gemeinschaft.» Karatsiuba lebt in der Nähe von Kupjansk, einer der instabilsten Regionen an der Frontlinie im Nordosten der Ukraine.
Im September 2022 kam ein Team von Ärzte ohne Grenzen in ihr Dorf, um medizinische Versorgung anzubieten. Da alle öffentlichen Gebäude zerbombt waren, stellte Karatsiuba ihr Haus zur Verfügung. Dort boten die Teams medizinische und psychologische Sprechstunden für Menschen aus der ganzen Gemeinde an.
«Ich befolge immer noch die Ratschläge der Psychologen von Ärzte ohne Grenzen und bringe meinen Nachbarn für Ruhe und Ausgeglichenheit die Kerzen-Atemübung bei», sagt sie. «Es hat mir geholfen, mich auch mit 75 Jahren noch nützlich zu machen. Derzeit engagiere ich mich in der Landwirtschaft und Hasenzucht.» Die Atemübung, von der Karatsiuba spricht, ist eine einfache Technik, um Stress und Angst abzubauen.
«Unser medizinisches Zentrum wird von den Menschen hier scherzhaft ‹Museum› genannt, weil es so neu ist. Jetzt gibt es einen Ort, wo man sich behandeln lassen kann und Medikamente erhält», sagt sie mit einem Lächeln. Unsere Teams arbeiteten mit der lokalen Bevölkerung zusammen, um das medizinische Zentrum wieder aufzubauen. Nun sind auch Mitarbeitende des Gesundheitsministeriums wieder zurückgekehrt.
Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen konnten einige dieser Gemeinden mit Hilfsgütern, medizinischer Versorgung und beim Wiederaufbau unterstützen. Meistens sind es jedoch die Menschen vor Ort selbst, die zusammen mit lokalen Freiwilligenorganisationen diese Arbeit erledigen. In den vergangenen zwei Jahren ist es immer schwieriger geworden, Gebiete, in denen gekämpft wird, oder nahe der Frontlinie zu erreichen.
Derzeit betreibt Ärzte ohne Grenzen mobile Kliniken in 100 verschiedenen Städten und Dörfern in der Nähe der Frontlinie in den Regionen Donezk, Charkiw und Cherson. Diese Kliniken umfassen normalerweise eine therapeutische, eine psychologische und eine medizinische Fachkraft sowie ein:e Sozialarbeiter:in.
«Plötzliche laute Geräusche oder Gespräche über den Krieg können bei meinem Sohn eine Veränderung seines Wohlbefindens auslösen.»
«Mein jüngerer Sohn Vania benötigt nun mehr Betreuung und Aufmerksamkeit», sagt Olena Beda. «Er bittet mich oft, ihn zu umarmen und fragt mich, wie sehr ich ihn liebe.»
Olena, die Mutter des 9-jährigen Vania, lebt seit über einem Jahr mit ihren beiden Kindern in einer Unterkunft für Vertriebene in der Oblast Kirowohrad, nachdem sie vor dem Krieg in der Region Donezk geflohen sind. Obwohl sich ihr aktueller Wohnort relativ weit entfernt von den Frontlinien befindet, sind Drohnen und Raketen in den letzten zwei Jahren ein unvermeidlicher Teil ihres Lebens geworden. Vania bekam Schlafstörungen, insbesondere nach Bombardierungen. Nachdem unser Team aus Psycholog:innen Spielgruppen für die Kinder in der Unterkunft organisierte, konnte Olena feststellen, dass Vanias Angst nachliess; er konnte wieder zurück in die Schule und lernte neue Freunde kennen.
«Plötzliche laute Geräusche oder Gespräche über den Krieg können bei meinem Sohn eine Veränderung seines Wohlbefindens auslösen», erklärt Olena.
«Zu Beginn der Eskalation beobachteten wir bei Kindern Symptome wie Angstzustände und Panikattacken», sagt unsere Psychologin Alisa Kushnirova. «Nun stellen wir fest, dass Kinder die abnormale Situation als normal wahrnehmen – die meisten haben sich an die Geräusche von Explosionen gewöhnt.
In den letzten zwei Jahren hat Ärzte ohne Grenzen 26 324 psychologische Einzelberatungen durchgeführt. In Unterkünften für intern Vertriebene sind die meisten Patient:innen Mütter mit Kindern. Wir beziehen auch Erwachsene in unsere psychologische Betreuung ein, denn die psychische Gesundheit der Eltern ist der Schlüssel für ein positives psychologisches Umfeld innerhalb der Familie und überträgt sich auch auf die Kinder.
«Jetzt lebe ich mit einer Prothese in Kiew mit meinem Sohn und bin mit meinen 72 Jahren glücklich, überlebt zu haben.»
«Am 18. April 2023 verlor ich mein Bein», erzählt Tetiana Doloza. «Der Markt in der Stadt Ukrajinsk in der Oblast Donezk wurde mit Raketen beschossen – und ich schwer verletzt.»
Es ist zehn Monate her, dass Tetiana ihr Bein verlor. Inzwischen geht sie selbstbewusst mit einer Prothese und Krücken durch Kiew. Vom Markt wurde sie in ein Spital gebracht und dann mit dem medizinischen Zug von Ärzte ohne Grenzen in die Region Lwiw transportiert, wo sie von Ärzt:innen und Physiotherapeut:innen eine Prothese erhielt.
«Als die Ärzte von Ärzte ohne Grenzen mich in das Spital im Westen des Landes brachten, fühlte ich mich verloren. Ich wusste nicht, wie ich mit einer Amputation zurechtkommen würde», erzählt sie. «Jetzt lebe ich mit einer Prothese in Kiew mit meinem Sohn und bin mit meinen 72 Jahren glücklich, überlebt zu haben.»
«Zwischen März 2022 und Dezember 2023 hat der medizinische Zug von Ärzte ohne Grenzen insgesamt 3808 Patient:innen transportiert. 310 von ihnen waren in kritischem Zustand», erläutert unsere Projektkoordinatorin Albina Zharkova. «2022 und Anfang 2023 war der Zug entscheidend, um die Menschen in sicherere Gebiete und Spitäler zur weiteren Behandlung zu bringen. Inzwischen hat sich die Lage geändert und unsere Krankenwagen kümmern sich um die Überweisungen in näher gelegene Einrichtungen.»
Derzeit bleiben die Patient:innen aufgrund der veränderten Kriegsdynamik in der Ostukraine und werden nicht mehr in den Westen überwiesen. Unsere Teams betreiben dennoch weiterhin 15 Ambulanzen, die durch Bombardierungen verletzte oder chronisch kranke Menschen in medizinische Einrichtungen bringen, die weiter von der Front entfernt sind.
Während die internationale Aufmerksamkeit für die humanitären Folgen des Krieges in der Ukraine nachlässt, sind die Kämpfe an der Front so verheerend wie eh und je. Zwischen 2014 und 2022 wurden mehr als 14 000 Menschen getötet. Seit Februar 2022 hat sich diese Zahl vervielfacht. Zudem leiden Hunderttausende an körperlichen oder seelischen Verletzungen, fast 10 Millionen Menschen wurden vertrieben.
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