Die seelischen Folgen der Pandemie dürfen nicht vernachlässigt werden
© MSF/Cesar Delgado
Mexiko4 Min.
Die durch Covid-19 verursachte Trauer ist einer der Schwerpunkte der Teams für psychische Gesundheit von Ärzte ohne Grenzen im mexikanischen Bundesstaat Tamaulipas und in Guatemala. Lourdes Trigueros, medizinische Expertin in unserem Projekt in Guatemala, spricht über die aus der Quarantäne und Selbstisolation entstandenen Herausforderungen, die ihr Team dazu veranlassten, neue Behandlungsmethoden zu entwickeln.
Trauer ist ein Prozess, den jede Person durchläuft, die jemanden – insbesondere einen geliebten Menschen – verliert. Es ist ein schmerzhafter und schwieriger Prozess, der uns hilft, uns zu sammeln und neuen Sinn in unserem Leben zu erkennen. Die Covid-19-Pandemie hat wie nie zuvor Menschen überall auf der Welt in Trauer versetzt. Von einem Tag auf den anderen hat sich die Welt verändert und haben wir alle unser gewohntes Leben verloren. Viele von uns mussten mit ansehen, wie geliebte Menschen starben. Und dann sind da auch noch die Millionen von Menschen, die sich nicht von der Krankheit abschotten konnten, sowie die Eindämmungsmassnahmen der Regierungen, die Auswirkungen auf das Leben von tausenden Migranten und Asylsuchenden weltweit hatten.
Trauer ist schmerzhaft, aber notwendig
Trauer dient in erster Linie dazu, uns widerstandsfähiger zu machen. Der Mensch ist vielseitig und besitzt die Fähigkeit, aus schwierigen Momenten und Verlusten zu lernen. Der neue Sinn, den wir nach einer Zeit des Trauerns in unserem Leben erkennen, macht uns stärker. Während die Pandemie andauert, werden Menschen, die sich nahestehen, unerwartet voneinander getrennt, was sich auf die Unterstützungsnetzwerke auswirkt. Viele geliebte Menschen sterben. Sie sterben ganz plötzlich, zuhause oder allein im Spital. Die Trauerverarbeitung wird dadurch erheblich erschwert, denn es ist sehr wichtig, dass eine im Sterben liegende Person bei ihrer Familie sein kann, und zwar für beide Seiten.
Massnahmen wie Social Distancing, Quarantäne und Reisebeschränkungen hindern uns daran, einander nah zu sein, Menschen zu umarmen oder sonstige Arten der körperlichen Zuneigung zu zeigen. Sie verhindern, dass wir unsere traditionellen Trauerrituale abhalten können.
Die Trauerverarbeitung findet auf verschiedenen Ebenen statt. Sie stellt uns vor enorme persönliche und gemeinsame Herausforderungen. In der Gemeinschaft haben wir die Verantwortung, uns auf neue Art und Weise um uns selbst zu kümmern, den Blick nach vorne zu richten und eine bessere Zukunft für die Personen zu ermöglichen, die sich während dieser Krise in einer prekären und instabilen Situation befinden. Wir müssen neue Wege finden, auf uns zu achten, um die Beziehungen zu unseren Familien und Gemeinschaften trotz der Distanz und der derzeitigen Schwierigkeiten zu stärken.
Die Folgen des Social Distancing
Zur Bewältigung dieser Pandemie ist Abstandhalten essenziell. Es führt jedoch auch dazu, dass Personen, die um einen geliebten Menschen trauern und einer Flut von Emotionen ausgesetzt sind, diese nicht auf angemessene Art und Weise oder zur richtigen Zeit ausdrücken können. Sie kämpfen mit Einsamkeit und Schuldgefühlen, welche schwerwiegende Folgen haben können und einer Auseinandersetzung bedürfen.
Für unsere Ärzteteams in Guatemala und Mexiko sind die durch Covid-19 verursachte Einsamkeit und Trauer eine stetige Sorge. Die aus der Selbstisolation entstandenen Herausforderungen haben uns dazu gebracht, neue Behandlungsmethoden zu finden. Ein Hindernis bei der psychologischen Betreuung ist zum Beispiel, dass wir mit unseren Patientinnen und Patienten nicht mehr von Angesicht zu Angesicht, sondern nur noch am Telefon sprechen können. Das Vertrauensverhältnis zwischen Psychologin und Patient muss über verbale Kommunikation und regelmässige Sitzungen aufgebaut werden. Unsere Werkzeuge sind nun vor allem die Stimme, Redepausen und die Art der verwendeten Wörter.
Die Psychologen und das medizinische Fachpersonal müssen an der Stärkung der Widerstandskraft der Patientinnen und Patienten arbeiten. Sie werden neue Hilfsmittel auf individueller, familiärer und Gemeinschaftsebene finden müssen, damit die Betreuung auf natürliche Art und Weise stattfinden kann und die Betroffenen wieder ein Leben führen können, in dem sie sich wohl und ausgeglichen fühlen.
Auswirkungen auf das medizinische Personal
Für das medizinische Personal sind die Folgen der Pandemie manchmal besonders schädlich, aber am wenigsten sichtbar. Die ständige Angst, sich oder eine nahestehende Person anzustecken, die furchtbare Stigmatisierung, die viele erleben, und der Mangel an persönlicher Schutzausrüstung führen dazu, dass sie sich emotional abschotten. Sie fühlen sich machtlos und sind frustriert.
Als Mitglieder des Gesundheitspersonals benötigen wir Ausrüstung und Werkzeuge, mit denen wir uns und andere schützen können. Mit den Menschen, die uns wichtig sind, können wir telefonisch in Kontakt bleiben. Wir müssen uns voll auf unsere täglichen Aufgaben konzentrieren können, gleichzeitig aber auch eine gute Team- und Familienatmosphäre haben.
Meine Empfehlung ist, dass wir unsere Kräfte sammeln, um weitermachen zu können, dass wir gemeinsam nach Lösungen suchen und Massnahmen vorschlagen, um unsere Patientinnen und Patienten bestmöglich zu entlasten. Gleichzeitig müssen wir uns Raum und Zeit geben, um uns um uns selbst zu kümmern und ein Unterstützungsnetzwerk an unserem Einsatzort aufzubauen.
Noch kennen wir nicht alle Auswirkungen von Covid-19 auf die psychische Gesundheit, sicher ist jedoch, dass sich die Art und Weise, wie wir uns um uns und andere kümmern und wie wir darüber reden, geändert hat. In den vergangenen Monaten ist uns mehr und mehr bewusst geworden, wie sich unsere individuelle und kollektive Arbeit auf unsere Umgebung auswirkt. Es liegt in unserer Hand, eine bessere Zukunft zu gestalten.
© MSF/Cesar Delgado