Ein sicherer Entbindungsort für syrische Flüchtlingsfrauen
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Die Hebamme Abla Ali kniete auf dem Boden des Zelts und war der Verzweiflung nahe. Die Schulter des Babys steckte fest, und die Mutter lag schon seit Stunden in den Wehen. Abla hatte weder irgendwelche Hilfsmittel noch Unterstützung von jemand anderem – alles, was ihr zur Verfügung stand, waren ihre eigenen Hände. Unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihr schliesslich, das Baby auf die Welt zu holen.
Das war im Jahr 2013, und Abla war gerade im Flüchtlingslager Domiz im Norden Iraks angekommen. Sie war mit ihrer Familie aus Syrien geflüchtet, als in ihrer Stadt Kämpfe ausgebrochen waren. Das Haus eines Nachbarn war dabei bombardiert worden, es stürzte ein, und alle, die im Haus waren, starben. Abla erzählt, dass sie froh waren, noch am Leben zu sein, doch im Lager sei es nicht einfach gewesen.
«Es gab weder Toiletten noch Wasser im Lager», erinnert sich Abla. «Es war kalt und regnete und es war wirklich hart, in ein Zelt hineinzuschauen und zu wissen, dass wir dort nun leben mussten. Wir versuchten, irgendwie mit der Lage zurechtzukommen. Eine meiner Schwestern hatte grosse Mühe, sie weinte einen Monat lang und wollte nach Hause gehen, selbst wenn das bedeutete, dass sie in Damaskus sterben würde.»
Abla hatte in Syrien die Ausbildung zur Hebamme gemacht und begann im Lager sofort zu arbeiten. Sie half den Frauen, in ihren Zelten zu gebären, da das nächste Spital zu weit weg war. Abla sagt, es sei machbar gewesen, solange es keine Komplikationen gegeben habe.
«Ich war immer sehr besorgt, wenn es bei einer Geburt Schwierigkeiten gab, wie zum Beispiel, als die Schulter des Babys feststeckte. Ich musste einfach mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln mein Bestes tun und hoffen, dass das Baby überleben würde. Es kam vor, dass ich nach einer schwierigen Entbindung meine Hände und Arme vor lauter Anstrengung kaum mehr bewegen konnte.»
Seit damals hat sich im Lager Domiz, in dem über 30’000 syrische Flüchtlinge leben, viel verändert. Die Lebensbedingungen sind noch immer schwierig, aber mittlerweile doch deutlich besser. Die Zelte sind durch einfache Betonhäuser mit Wellblechdächern ersetzt worden, behelfsmässige Imbissstuben servieren frisch gekochte syrische Gerichte und Teppichgeschäfte stellen am Rand der staubigen Strässchen ihre Ware aus.
Und die Frauen entbinden nun nicht mehr auf dem Boden ihrer Zelte. Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) hat eine Geburtsklinik errichtet, in der die Lagerbewohnerinnen ihre Babys unter sicheren Bedingungen zur Welt bringen können. Die Frauen erhalten dort auch vor- und nachgeburtliche Untersuchungen.
Die 29-jährige Shorash hat als Erste in der Klinik entbunden. Als Dank überliess sie es den Hebammen, die ihr dabei zur Seite gestanden hatten, den Namen auszuwählen. Sie entschieden sich für Isla. Seitdem hat Shorash in der Klinik auch noch Shifa zur Welt gebracht.
«Ich hatte von Nachbarn von der Geburtsklinik gehört, und jemand von MSF kam bei uns vorbei und sagte, dass es eine neue Einrichtung geben würde», erzählt Shorash. «Die Betreuung hier ist wirklich gut, man kümmert sich gut um uns», fährt Shorash fort.
«Sie besuchten mich, führten Tests durch und überwachten mich vor, während und nach der Geburt. Das war mir sehr wichtig, ich wollte sicher sein, dass es dem Baby gut ging. Der wichtigste Punkt für uns ist, dass alles in der Geburtsklinik kostenlos ist. Wir kommen lieber hierher, als dass wir an einem anderen Ort bezahlen müssen.»
In den vergangenen vier Jahren haben die MSF-Teams über 3’400 Babies zur Welt gebracht und mehr als 27’400 gynäkologische Untersuchungen durchgeführt. Abla arbeitete zu Beginn als Hebamme und später als Supervisorin für sexuelle und reproduktive Gesundheit. Sie hat ausserdem kürzlich in der Klinik selbst ein Baby zur Welt gebracht.
«Die Frauen erhalten bei uns eine Rundumbetreuung, ab Beginn der Schwangerschaft bis nach der Geburt», sagt sie. «Die Frauen fühlen sich hier wohler, weil das Personal selbst auch im Lager lebt und aus Syrien ist. Wir haben auch eine gute Zusammenarbeit mit der Gesundheitsbehörde von Dohuk, die in der Klinik Impfungen anbietet.»
«Es war mir ein bisschen peinlich, für die Geburt meines Babys hierherzukommen», lacht Abla. «Aber es ist sauber und ich vertraue dem Personal und weiss, dass ich hier in Sicherheit bin».
«Das Schönste an meinem Beruf ist die Wertschätzung der Mütter. Wenn ich durch das Lager gehe, werde ich angehalten und die Mütter sagen zu ihren Kindern: Das ist Abla, sie ist eine gute Hebamme und hat dich zur Welt gebracht.»
MSF begann das Projekt für Gynäkologie und Mutter-Kind-Versorgung im Lager Domiz 2013. Zunächst umfasste das Angebot vorgeburtliche Untersuchungen und Familienberatung. 2014 wurde daraus eine Geburtsklinik, die rund um die Uhr in Betrieb war und auch gynäkologische Untersuchungen anbot.
Im November 2017 beendete MSF das Projekt in Domiz und übergab die Leitung der Geburtsklinik der Gesundheitsbehörde von Dohuk. Wir sind weiterhin im Irak tätig und leiten zurzeit Projekte in den Gouvernements Erbil, Diyala, Ninawa, Kirkuk, Salah ad-Din, al-Anbar und Bagdad.
MSF leistet neutral und unparteiisch medizinische Hilfe und versorgt Patienten ungeachtet von Ethnie, Religion, Geschlecht oder der politischen Überzeugung. Zur Wahrung ihrer Unabhängigkeit nimmt die Organisation für ihre Programme im Irak keinerlei Gelder von Regierungen, religiösen Gruppierungen oder internationalen Organisationen an. Die Projekte werden ausschliesslich durch private Spenden finanziert.