Ein Spital aufsuchen: ein lebensgefährliches Unterfangen
Zentralafrikanische Republik5 Min.
Ein MSF-Pflegefachmann schildert die Lage in der krisengebeutelten Zentralafrikanischen Republik und wie sich die Gewalt auf die Bevölkerung auswirkt.
Weitab von der Weltöffentlichkeit ereignet sich in der Zentralafrikanischen Republik ein humanitäres Desaster: Nach drei Jahren Kämpfen und Chaos ist das Gesundheitssystem in der Zentralafrikanischen Republik nur mehr ein Rumpf. 70 Prozent aller Kliniken und Gesundheitszentren wurden zerstört oder sind geschlossen. Die Zivilbevölkerung zahlt einen unmenschlichen Preis für die anhaltende Gewalt. Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) forderte anlässlich der Geberkonferenz in Brüssel am 17. November eine deutliche Aufstockung der Mittel für medizinische Aktivitäten – denn die Nothilfe von internationaler Seite wird derzeit zurückgefahren.
Unser Pflegefachmann Elysé Tando aus Boguila arbeitet seit fast zehn Jahren für MSF in der Zentralafrikanischen Republik. Er schildert in diesem persönlichen Bericht die Situation im konflikterschütterten Land und welche Auswirkungen die Gewalt auf die Menschen hat.
«Ich bin aus Boguila im Nordwesten des Landes. Hier lebe ich und arbeite als Pflegefachmann bei MSF – und das seit bereits fast zehn Jahren. Die Lage ist momentan nicht besonders gut. Ich habe sogar den Punkt erreicht, an dem ich mich frage, ob ich mein Land verlassen sollte. In diesem Gebiet sind viele bewaffnete Gruppen aktiv; eine davon plant, unsere Stadt als Basis zu nutzen. Natürlich wollen das unsere Dorfvorsteher nicht und sind gegen dieses Vorhaben. Daher werden sie durch diese Gruppe verfolgt und bedrängt – oder wegen ihres Widerstands sogar systematisch getötet.
Die Anhänger dieser gewalttätigen Gruppe plündern Wohngebiete und rauben Menschen aus, wenn sie Geld oder sonst etwas benötigen. Sie verstecken sich im Busch entlang der Hauptstrassen, überfallen Fussgänger und fordern alles, was diese Person auf sich trägt. Wenn man ihnen alles gegeben hat, wird man noch verprügelt oder sogar getötet. Wir hören diese Geschichten die ganze Zeit – alle zwei oder drei Tage! Meistens bleiben sie jedoch nicht lange, weil eigene ‚Selbstverteidigungs-Gruppen‘ sie wegjagen, wenn bekannt wird, dass sie Menschen ausrauben.
«Menschen haben Angst, in ein Spital zu fahren»
Die Folge all dieser Gewalt ist, dass die Menschen Angst haben, in ein Spital zu fahren. MSF ist die einzige Organisation, die kostenlose Gesundheitsversorgung in dieser Region anbietet. Es gibt eine Einrichtung von MSF in Paoua, das liegt rund 80km entfernt. Ein anderes Spital ist in Bossangoa, dorthin muss man 115km fahren. Manchmal können wir erkennen, dass eine bewaffnete Gruppe entlang einer gewissen Strasse aktiv ist, weil wir merken, dass aus dieser Richtung keine Patienten mehr zu uns kommen. Wir wissen nicht, wie viele Leben hätten gerettet werden können, wenn es diesen Menschen an jenen Tagen gelungen wäre, zu uns zu gelangen.
Vor ein paar Monaten wurde der Fahrer eines Moped-Taxis auf der Strasse gleich vor Boguila getötet. Anscheinend hatte man ihn ausgeraubt – und anschliessend ermordeten die Banditen ihn. Danach getrauten sich die anderen Taxi-Fahrer nicht mehr, die Stadt zu verlassen, aus Angst, dass ihnen das Gleiche passieren könnte. Deshalb war es unmöglich, jemanden zu finden, der Patienten bei Bedarf in eine spezialisierte Einrichtung brachte. Zwei Babys starben während dieser Zeit: Wegen einer Malaria-Infektion litten sie an Blutarmut und wir konnten sie nicht an eine andere Einrichtung überweisen, wo sie die benötigte Hilfe bekommen hätten.
Kranke sterben, weil sie zu spät oder keine Hilfe bekommen
Kürzlich starb einer unserer Patienten – ein junger Mann im Alter von 21 Jahren – an Meningitis. Er kam einfach zu spät. Seine Familie brachte ihn um ca. 7 Uhr morgens zu uns, nachdem er in der Nacht krank geworden war. Sie konnten ihn in der Dunkelheit aber nicht ins Spital bringen, weil es schlichtweg zu unsicher ist. In derselben Woche war in ihrem Dorf ein Mann ausgeraubt und getötet worden; sie fanden seinen Leichnam im Busch. Am Morgen nahmen sie ein Moped-Taxi und brachten ihn in unser Gesundheitszentrum. Doch weil schon so viel Zeit vergangen war, kam der junge Mann in sehr schlechtem Zustand zu uns. Er verstarb, noch während ich seinen Überweisungsschein ausfüllte.
Auch HIV-infizierte Menschen in und um Boguila leiden unter der massiv eingeschränkten medizinischen Versorgung. Sie kommen normalerweise zu uns, um ihre antiretroviralen Medikamente abzuholen, und wenn sie an einer Begleit-Infektion erkranken, behandeln wir sie hier im Gesundheitszentrum. Doch kürzlich hörte ich von insgesamt vier Todesfällen in einer nahegelegenen Stadt, wo sich eine bewaffnete Gruppe niedergelassen hatte. Unsere Patienten konnten ihre Medikamente nicht abholen oder zu uns ins Zentrum kommen, und starben zu Hause. Was für ein furchtbarer, schrecklicher Tod.
«Ich bleibe lieber zu Hause und begrabe mein Kind»
Tatsächlich können wir über das Ausmass der Situation nur spekulieren. Wenn die Strassen dermassen unsicher sind, können sich die Menschen nicht fortbewegen – entweder, weil sie Angst haben, oder weil sie physisch davon abgehalten werden – und deshalb bekommen wir sie gar nicht zu Gesicht. Wenn du mit Frauen sprichst, die ihre Kinder zu spät ins Spital bringen, sagen sie: ‚Ich bleibe lieber zu Hause und begrabe mein Kind, als dass ich mich auf den Weg mache und auf der Strasse angegriffen werde.‘ Das darf einfach nicht sein.»
MSF unterstützt das Spital in Boguila bei der Versorgung von HIV/Aids, bei Impfkampagnen, bei ambulanten Konsultationen sowie im Bereich reproduktive Gesundheit und betreibt die Apotheke, das Labor und die ambulante Ernährungsstation. Ein internationales Team reist einmal pro Woche nach Boguila, um den lokalen Gesundheitsfachkräften zur Seite zu stehen. Als das Spital im April 2014 gewaltsam angegriffen wurde, fuhr MSF die Aktivitäten zurück und zog alle internationalen Einsatzkräfte ab. Bei diesem Übergriff wurden 19 Menschen getötet, darunter drei MSF-Mitarbeitende.