«Flüchtlinge und Migranten: Wenn sich EU-Staaten für Misshandlung und Gewalt entscheiden»

En l’absence de soutien politique fort et d’exemplarité, le risque est désormais d’assister à un démantèlement continu du droit international sur les réfugiés

Libyen4 Min.

Am 11. August hat MSF beschlossen, einige ihrer Rettungsaktionen im Mittelmeer einzustellen, nachdem die libysche Küstenwache erklärt hatte, dass sie private Seenotretter in ihrem erweiterten Sektor nicht länger dulden würde.

Abgesehen von den aktuellen Entwicklungen der Lage haben wir es hier mit den konkreten Auswirkungen einer politischen Strategie zu tun, welche die EU-Mitgliedsstaaten verfolgen, um den Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer aufzuhalten: die Auslagerung der Grenzsicherung an Drittstaaten. In einer Übereinkunft mit den libyschen Behörden wurden diese dazu verpflichtet, Boote vor dem Auslaufen zu hindern und im Meer aufgegriffene Passagiere in libysche Internierungszentren zu bringen. Viele werden sich nun fragen, wo das Problem liegt, wenn auf diese Weise dem Sterben im Mittelmeer ein Ende gesetzt wird.

Die medizinischen Teams von Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) sind vor Ort in libyschen Internierungszentren und versuchen, die dort festgehaltenen Männer, Frauen und Kinder so gut es geht zu versorgen. Sie wissen, wie es dort aussieht. Im Land herrscht absolutes Chaos. Dementsprechend befinden sich die Internierungszentren unter der Zuständigkeit verschiedener Gruppierungen, darunter bewaffneter Milizen und krimineller Banden, die keinen Gedanken daran verschwenden, ob die Grundrechte der Festgehaltenen gewahrt werden. Die Menschen leben unter katastrophalen Hygienebedingungen. Unsere Ärzte berichten von Verletzungen und von Krankheiten, die auf die fehlende Hygiene und Mangelernährung zurückzuführen sind. Männer und Frauen sind Opfer von Gewalt, sexuellem Missbrauch und Folter, von Erpressung, Zwangsarbeit und Versklavung. Flüchtlinge und Migranten sind in Libyen systematischen Misshandlungen ausgesetzt und Europa hat beschlossen, das zu billigen, indem es Menschen dorthin zurückschickt.

Vor diesem Hintergrund sind die erneuten Anschuldigungen an die Adresse humanitärer Organisationen, im Mittelmeer mit Schleppern zu kooperieren, absurd. Sie sind Teil dieser Strategie. MSF hält sich strikt an nationale Gesetze und arbeitet eng mit den italienischen Behörden zusammen, welche die Seenotrettung koordinieren. Auch klagt unsere Organisation das herrschende Vorgehen an, das ohnehin hilfsbedürftige Menschen in die Fänge von Schlepperbanden treibt. Denn das Fehlen von alternativen Fluchtwegen ist einer der Hauptgründe, weshalb das Geschäft krimineller Banden im Mittelmeer floriert – und das Mittelmeer, trotz Rettungsaktionen, zum Schauplatz menschlicher Tragödien wird.

Als medizinisch-humanitäre Organisation ist es nicht die Aufgabe von MSF, über die legitime Zuständigkeit der Staaten für Grenzsicherung und Flüchtlingspolitik aufgrund demokratischer Entscheidungsprozesse zu urteilen. Es ist aber sehr wohl unsere Aufgabe, das Recht von Menschen auf eine würdige Behandlung, auf medizinische Versorgung und auf Schutz einzufordern, wann immer Menschen vor Gefahr fliehen oder sich in akuter Lebensgefahr befinden – an Land wie auf See. Wir verurteilen die zynische Entscheidung, einerseits Rettungseinsätze zu behindern und so de facto das Sterben im Meer hinzunehmen und andererseits menschenunwürdige Aufnahmebedingungen zu tolerieren oder gar zu fördern, um sie von der Fahrt über das Mittelmeer abzuhalten.

Angesichts der Institutionalisierung von Misshandlung und Gewalt von Vertriebenen weltweit fordert MSF weiterhin legale und sichere Wege, damit Staaten wirksam und gerecht auf diese Krise reagieren können. Das betrifft somalische Flüchtlinge in Kenia, burundische Flüchtlinge in Tansania, syrische Flüchtlinge in Jordanien gleichermassen wie birmanische Flüchtlinge, die nach Australien wollen. Ausserdem bedarf es menschenwürdiger Lösungen, wenn Menschen die Einreise in einen Staat verwehrt wird und sie in ihr Heimatland zurückgeschickt werden. Ist die Sicherheit im eigenen Land nicht gewährleistet, gilt der Grundsatz des «non-refoulement»: das Rückschiebeverbot.  Wieso sollte Europa hier eine Ausnahme bilden?

Europäische Staaten haben eine historische Verantwortung gegenüber den Flüchtenden. Erstens, weil ihre politische und militärische Involvierung in vielen Konfliktzonen ihnen – wie jeder anderen Partei – eine moralische Verpflichtung gegenüber der Zivilbevölkerung gibt, die zwischen die Fronten gerät und fliehen muss. Die Folgen der westlichen Intervention im Irak von 2003 und in Libyen im Jahr 2010 und der damit zusammenhängende politische Zusammenbruch mehrerer Staaten haben sich auf den gesamten Nahen Osten und die Sahel-Zone ausgewirkt. Die Staaten der Region, die sich solidarisch zeigen, tragen eine demografische, soziale und finanzielle Last, die in keinem Verhältnis dazu steht, was Europa bis anhin übernommen hat. Zweitens, weil sich die Staaten Europas als Verfechter der Flüchtlingskonvention seit Jahrzehnten für eine würdige Behandlung von Konfliktopfern einsetzen. Wenn es heute um vom Krieg zerrüttete Nachbarländer Europas geht, setzen eben diese Verfechter ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel, indem sie Staaten unterstützen, welche die Rechte von Flüchtenden mit Füssen treten.
Aufgrund von Spannungen, demografischen Krisen und Klimawandel werden die Migrationsströme wohl weiter zunehmen. Die Antwort auf die derzeitige Krise ist daher wegweisend. Eine politische Linie der Angstmacherei und die Errichtung von Mauern, mit denen das Problem auf den Nachbarn abgewälzt wird, vergrössert den Anteil von illegalen Outsidern und von Bürgern zweiter Klasse, die Gängeleien und Übergriffen krimineller Banden schutzlos ausgeliefert sind.

Einfache Lösungen gibt es nicht. MSF ruft daher die europäischen Staaten dazu auf, den humanitären Grundsätzen gerecht zu werden und den Menschen Schutz zu gewähren, die vor Gewalt und Ausbeutung fliehen und allenthalben auf Ablehnung stossen – mit Verweis auf die Sorge um die eigene Stabilität und Sicherheit. Wenn Europa Flüchtende daran hindert, das Mittelmeer zu überqueren, ohne sich über deren Verbleib in Libyen zu kümmern, macht es sich der Mittäterschaft schuldig und überlässt es den humanitären Organisationen, die grausamen Folgen dieser sträflichen Vernachlässigung zu behandeln – und das in einem Kontext, in dem deren Handlungsspielraum stark eingeschränkt ist.
Bruno Jochum, Generaldirektor MSF Schweiz