Haiti: Gesundheitsversorgung inmitten extremer Gewalt und Unsicherheit
© Guillaume Binet/MYOP
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Die Ermordung von Präsident Jovenel Moïse letzte Woche hat die weltweite Aufmerksamkeit auf die politischen Unruhen in Haiti gelenkt. Das Land befindet sich jedoch bereits seit vielen Monaten in einer tiefen Krise. Im Interview beschreibt Stéphane Doyon, Leiter der Einsätze von Ärzte ohne Grenzen Haiti, das aussergewöhnliche Ausmass an Gewalt im Land und die Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung und die humanitäre Lage.
Wie würden Sie die Situation in Haiti beschreiben?
Um den Alltag in Haiti zu beschreiben, muss man auf Kriegsvokabular zurückgreifen. Die Hauptstadt Port-au-Prince ist durch mehrere Frontlinien geteilt. Ganze Stadtteile sind unter der Kontrolle bewaffneter Gruppen mit wechselnden Territorien. In dicht besiedelten und verarmten Gebieten sind die Strassen verbarrikadiert, und in einigen Gegenden gibt es Scharfschützen, die auf Sicht schiessen. Zusammenstösse zwischen Banden haben Tausende von Bewohner*innen gezwungen, einige Stadtteile zu verlassen. In anderen, wie z.B. Cité Soleil, ist die Bevölkerung von den Kämpfen eingeschlossen. Die UNO schätzt, dass 18 000 Menschen vertrieben wurden, die nun entweder bei Verwandten oder in behelfsmässigen Unterkünften wie Schulen oder Kirchen, untergebracht sind. Die meisten von ihnen sind in den letzten Wochen geflohen, als die Kämpfe eskalierten. Die Hauptzugangswege nach Port-au-Prince werden von Banden kontrolliert, und das Betreten oder Verlassen der Stadt ist kompliziert. Zusätzlich zu den Kämpfen gibt es ein sehr hohes Mass an Kriminalität mit Raubüberfällen, Entführungen und Erpressungen.
Was macht Ärzte ohne Grenzen?
Aufgrund der beschriebenen Situation gibt es viele Opfer von Gewalt, vor allem Menschen mit Verletzungen. In unserem Trauma-Krankenhaus in Tabarre haben wir seit Jahresbeginn mehr als 600 Verletzte versorgt, die meisten von ihnen aus den Bezirken Martissant, Cité Soleil, Croix des Bouquets und Bel Air, wo es immer wieder zu besonders schweren bewaffneten Auseinandersetzungen kommt. Seit April hatten wir es mit mehreren grösseren Anstürmen an Verletzten zu tun, die uns veranlassten, unsere Krankenhauskapazitäten zu erhöhen. Es gab Tage, an denen unsere Teams bis zu 20 Patient*innen aufgenommen haben. Im Durchschnitt sind mehr als 60 Prozent unserer Traumapatient*innen Opfer von Schuss- oder Stichverletzungen. Abgesehen davon behandeln wir weiterhin Opfer sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt in Port-au-Prince und Gonaïves.
Was sind die Auswirkungen auf die Aktivitäten von Ärzte ohne Grenzen?
Haiti leidet schon seit Jahren unter chronischer Gewalt, die Situation hat sich aber seit über einem Jahr schrittweise verschlechtert: Gesundheitseinrichtungen bleiben nicht mehr verschont, und unsere medizinische Hilfe wurde durch eine Reihe von kritischen Vorfällen immer wieder unterbrochen. Im Februar musste ein Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen zur Behandlung schwerer Verbrennungen im Bezirk Drouillard geschlossen werden, weil das Gebäude buchstäblich von Kämpfen umzingelt war. Die etwa 20 Patient*innen, die sich noch im Krankenhaus befanden, mussten verlegt werden, und das Krankenhaus hat seither nicht wieder geöffnet. Letzten Monat wurde das Notfallzentrum von Ärzte ohne Grenzen im Stadtteil Martissant durch eine Explosion von Gewalt auf eine harte Probe gestellt. Mehrere Tage lang musste sich das medizinische Personal um die Verwundeten kümmern und sich gleichzeitig selbst vor verirrten Geschossen schützen, einer unserer Krankenwagen wurde ausgeraubt. Am 26. Juni geriet die Einrichtung unter direkten Beschuss und wurde schliesslich evakuiert, um Patient*innen und Personal nicht weiter zu gefährden.
Abgesehen von diesen extremen Vorfällen bedroht die alltägliche Gewalt jeden im Land. Wenn wir auf die Strasse gehen, leben unsere medizinischen Mitarbeiter*innen genauso wie die Bevölkerung in Angst vor verirrten Geschossen oder Raubüberfällen. Einer unserer Mitarbeiter, der in Tabarre arbeitete, wurde am 25. Mai von bewaffneten Männern ermordet, nachdem er seinen Arbeitstag im Krankenhaus beendet hatte und auf dem Heimweg war.
Was ist mit dem Gesundheitssystem?
Dieser permanente Zustand der Unsicherheit schränkt den Zugang der Bevölkerung zu Gesundheitsversorgung ein. Das haitianische Gesundheitssystem ist bereits jetzt extrem ungleich, da private Gesundheitsleistungen nur denjenigen zur Verfügung stehen, die es sich leisten können, während es den öffentlichen Gesundheitseinrichtungen an wesentlicher Ausrüstung fehlt. In diesem Kontext ist es eine grosse Herausforderung, die medizinische Versorgung aufrechtzuerhalten. Personal und Patient*innen müssen in der Lage sein, Kliniken zu erreichen und sicher von dort zurückzukehren, aber es gibt keine Garantie, dass sie das können. In einer Zeit, in der Ärzte ohne Grenzen die Hilfe ausweiten sollte, um den wachsenden medizinischen Bedarf - auch aufgrund der Zunahme von Covid-19-Fällen - zu decken, müssen wir darum kämpfen, unsere bestehenden Einrichtungen offen zu halten.
Haiti befindet sich in einem Zustand extremer Gewalt und totaler Unsicherheit gepaart mit einer grossen Gesundheitskrise. Die Ermordung des Präsidenten trägt nur weiter zu dieser Unsicherheit bei.
© Guillaume Binet/MYOP