Jemen: „Es ist die Art der Gewalt, die sich verändert hat“
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Am Abend von Samstag, dem 4. August 2012, starben bei einem Anschlag in der südjemenitischen Stadt Jaar, in der Provinz Abyan, mehr als 40 Menschen.
Viele weitere Personen wurden bei der Bombenexplosion, die sich bei einem Begräbnis ereignete, verletzt. Rund 50 Verletzte wurden in das auf Chirurgie und Trauma spezialiserte Spital von MSF in der Stadt Aden gebracht, wo das medizinische Personal die Nacht durcharbeitete, um die vielen Patientinnen und Patienten zu behandeln.
Am nächsten Tag wurden drei weitere Menschen, darunter zwei Kinder, eingeliefert. Sie wurden schwer verletzt, als sie in Jaar und Zinjibar Blindgänger (nicht explodierte Sprengkörper) anfassten.
Anne Garella, die Projektkoordinatorin von MSF in Aden, berichtet im Interview über die anhaltende Gewalt im Süden des Jemen und über den erschwerten Zugang der Bevölkerung zur Gesundheitsversorgung.
Wie haben Sie es geschafft, die vielen Verletzten nach dem Angriff vergangenen Samstag zu versorgen?
Das ganze Team ist mit diesem massenhaften Zustrom von Verletzten sehr professionell umgegangen, auch wenn die Situation –um es gelinde auszudrücken—sehr hektisch war. Wir haben 49 Verletzte behandelt, darunter zehn welche so schwer verletzt waren, dass sie noch bei ihrer Einlieferung oder bald danach gestorben sind. Es hatte auch Patienten mit geringeren Verletzungen, aber mehr als zehn von ihnen waren in einem sehr kritischen Zustand.
Zusätzlich waren wir besorgt über die Sicherheit des Spitals und unserer Patienten: Wenn es zu einem solchen Anschlag kommt und wir die Opfer der Explosion behandeln, liegen die Nerven bei den Familienmitgliedern oft blank. Dank der Professionalität des Teams, insbesondere des Wachpersonals, konnten wir die Situation jedoch unter Kontrolle behalten.
Wie würden Sie die Beziehungen zwischen dem Spital und der lokalen Bevölkerung beschreiben?
Es war bemerkenswert, dass so viele Verletzte des Angriffs direkt in unser chirurgisches Spital gebracht wurden, ohne dass sie von ihrem örtlichen Spital zu uns überwiesen wurden. Das zeigt, dass die Menschen die hier leben unsere Gesundheitseinrichtung gut kennen und sie Vertrauen haben in die Qualität unserer Behandlungen.
Die Tatsache, dass die Situation im Spital unter Kontrolle geblieben ist, auch wenn sie angespannt war, ist ein Zeichen dafür, dass die Neutralität unserer Einrichtung respektiert wird. Das Aufbauen von Vertrauen bei der lokalen Bevölkerung und das Schaffen eines humanitären Raums, in dem wir arbeiten können, ist eine ständige Bemühung. Wir arbeiten immer darauf hin, dass unsere Ethik und unsere Prinzipien klar verstanden werden.
Wie hat sich die Situation in Abyan in den vergangenen drei Monaten entwickelt?
Das Niveau der Gewalt hat nicht abgenommen, es ist eher die Art der Gewalt, die sich verändert hat. In Städten wie Jaar ereignen sich nun statt bewaffneten Zusammenstössen eher willkürliche Gewalt wie Bombenangriffe und Unfälle mit Landminen.
Obwohl die Aktivitäten in unserem Spital in Aden im Vergleich zu Juni zurückgegangen sind, werden weiterhin viele Patienten aufgenommen. Normalerweise sind 40 unserer Betten belegt, und wir haben selten weniger als 35 Patienten im Spital.
Die Strasse zwischen Jaar und Aden wurde jetzt wieder vollständig freigegeben, dadurch ist es für uns jetzt viel einfacher, Patienten mit unserem Krankenwagen-Service nach Aden zu bringen. Früher gab es Strassenblockaden und wir mussten manchmal eine gefährliche und lange Gebirgsstrasse benützen. Viele Patienten blieben deshalb lieber zuhause, statt das Risiko einer Reise auf sich zu nehmen.
In den vergangenen Wochen sind viele Vertriebene nach Jaar zurückgekehrt, und die Regierung ist darum bemüht, die wichtigsten Versorgungsangebote wieder aufzunehmen. Doch die Menschen aus Zinjibar sind noch nicht zurückgekehrt, und es ist nicht klar, wann das möglich sein wird. Ein Grossteil der Stadt wurde durch heftige Gefechte während des vergangenen Jahres zerstört, und es gibt weiterhin viele Landminen und andere nicht explodierte Sprengkörper. Wichtige Services wie Elektrizität und Wasser wurden ebenfalls noch nicht instandgesetzt.
Wie beeinflussen Landminen und Blindgänger das Leben der Menschen?
Es sind die Kinder, die am meisten betroffen sind. Sie spielen mit Sachen die sie finden, und das Ergebnis ist, dass ihr Leben zerstört wird. Am Tag nach dem Bombenanschlag in Jaar wurden drei Patienten bei uns eingeliefert, die von Blindgängern verletzt worden waren. Zwei davon waren Kinder, an denen wir Amputationen vornehmen mussten. Sie kamen aus Al-Rawdah, einem Ort, der erst am Tag davor als „frei von Minen“ deklariert worden war. Seit Juni haben wir 22 solcher Fälle behandelt - drei dieser Patienten waren so schwer verletzt, dass sie an ihren Verletzungen gestorben sind.
Neben den körperlichen Auswirkungen muss auch das psychologische Leid behandelt werden, damit diese Kinder und ihre Eltern wieder ein normales Leben führen können. Es sind grössere Anstrengungen seitens der Regierung und der internationalen Gemeinschaft nötig, damit die betroffenen Gebiete von Landminen gesäubert werden und die Bevölkerung über die Risiken von Landminen aufgeklärt wird.
Was sind die grössten Herausforderungen im südlichen Jemen?
Sowohl die medizinische Grundversorgung als auch die fachärztliche Versorgung sind ungenügend. Die notwendige Infrastruktur wird nicht ausreichend gepflegt und Korruption ist allgegenwärtig. Der eingeschränkte Zugang zur Gesundheitsversorgung durch die unsichere Lage bleibt auch ein Hauptproblem. Mehr Gewalt bedeutet, dass die Menschen Angst haben, den nächstgelegenen Gesundheitsposten aufzusuchen. Wenn sie dies trotzdem machen, sind die Ärzte nicht immer da. Durch finanzielle Probleme kommt es häufig vor, dass die Menschen sich entscheiden müssen ob sie medizinische Hilfe in Anspruch nehmen oder sich ernähren wollen. Die Ausschöpfung von Wasserreserven, Streit um Land zwischen ethnischen Gruppen und gestiegene Treibstoffpreise tragen weiter dazu bei, dass die ländliche Bevölkerung unter Nahrungsmittelunsicherheit und zunehmender chronischer Mangelernährung leidet.
MSF ist seit dem Jahr 1986 im Jemen aktiv, seit 2007 durchgehend. Neben der Arbeit in den Distrikten Aden, Ad-Dhali, Abyan und Al-Baydha führt die Hilfsorganisation auch in Amran und Hajjah, im Norden des Landes, chirurgische und medizinische Aktivitäten durch. MSF finanziert die Arbeit im Jemen ausschliesslich aus privaten Spenden und akzeptiert dafür kein Geld von Regierungen.