Jemen: «Es muss klar sein, dass diese Sanktionen nicht für humanitäre Hilfe gelten»
© Agnes Varraine-Leca/MSF
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Die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika hat die Huthi-Miliz, die Sanaa und einen Grossteil des Landes unter Kontrolle hat, als «ausländische Terrororganisation» eingestuft. Das bedeutet, dass gegen alle Personen und Unternehmen, die mit ihr oder Einrichtungen unter ihrer Kontrolle zusammenarbeiten, Sanktionen ergriffen werden. Marc Schakal, MSF-Programmverantwortlicher im Jemen, erklärt, welche Gefahr dem Land und seiner Bevölkerung droht, wenn für die humanitäre Hilfe keine Ausnahmeregelung vorgesehen ist.
Warum ist Ärzte ohne Grenzen über diese Sanktionen besorgt?
Wir können die Auswirkungen dieser Sanktionen für die humanitäre Hilfe noch nicht abschätzen. Das könnte Hilfsorganisationen oder Unternehmen davon abhalten, im Jemen tätig zu werden, was für die zahlreichen Jemenit*innen, die auf Hilfe angewiesen sind, verheerend wäre.
Oftmals denkt man bei unserer Arbeit nur an den Arzt oder die Ärztin, die Patient*innen versorgt, doch dahinter steckt noch viel mehr: Da ist das Flugzeug, das unsere Teams vor Ort bringt, die Banküberweisungen zur Lohnzahlung des lokalen Personals, das Schiff, das Medikamente und anderes medizinisches Material transportiert. Wenn nun Flug- und Schifffahrtsgesellschaften oder Banken nicht wissen, ob sie seitens der Vereinigten Staaten etwas zu befürchten haben, wenn sie Material oder Geld in den Jemen befördern, könnten sie die Zusammenarbeit verweigern. Das hätte dann natürlich auch Auswirkungen für den Arzt, der Patient*innen behandelt.
Ärzte ohne Grenzen unterstützt oder leitet Spitäler und Kliniken in dreizehn Gouvernements – dazu gehören Regionen, die unter Kontrolle der Huthi sind. Wir müssen uns deshalb mit ihnen absprechen und gewisse Kosten für den Transport von Medikamenten und medizinischen Bedarfsgütern übernehmen. An Orten wie Khamer arbeiten wir aber auch mit dem Gesundheitsministerium zusammen. Wir betreiben dort gemeinsam ein Spital und kommen auch für die Lohnkosten des Personals des Gesundheitsministeriums auf, das teilweise seit Jahren keinen Lohn mehr erhalten hat. Das alles könnte theoretisch durch diese Einstufung der Amerikaner illegal werden, und ohne Ausnahmeregelungen würde unsere Arbeit viel komplizierter.
Wie ist die aktuelle Lage im Jemen? Ist Ärzte ohne Grenzen über die Hungersnot besorgt?
Die jemenitische Bevölkerung leidet unter den Folgen von sechs Jahren Krieg. Das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen. Die Wirtschaftskrise lässt die Preise von Nahrung und Treibstoff ansteigen. Wir wissen, dass auch viele Menschen an Covid-19 erkrankt oder sogar daran gestorben sind. Da nur sehr wenig getestet wird, ist es unmöglich, eine genaue Zahl zu kennen. Über Tests, die in Gebieten unter Kontrolle der Huthi-Rebellen durchgeführt wurden, ist nichts bekannt.
Es ist sehr schwierig, gerade besonders bedürftigen Jemenit*innen Hilfe zukommen zu lassen. Trotz allem, was wir und andere Organisationen leisten, bleibt der Hilfebedarf riesig. Durch die Behörden verordnete Restriktionen und Hindernisse sind im Jemen eine permanente Begleiterscheinung, insbesondere im Norden. Administrative Hürden bei der Ausstellung von Visa für das Personal oder beim Import von Material sorgen für zusätzliche Frustration. In gewissen Gebieten erschwert die unsichere Lage noch immer die Fortbewegungsmöglichkeiten. Verspätete Hilfslieferungen hätten verheerende Auswirkungen.
Wir machen uns grosse Sorgen, inwiefern die Sanktionen die Lebenskosten noch weiter in die Höhe treiben könnten. Das bei einer Bevölkerung, die nur knapp über die Runden kommt. Im Gegensatz zu anderen konnten wir im Jemen aber keine Hungersnot feststellen. Es gibt Nahrung im Land, doch die Preise sind stetig gestiegen, so dass sich zahlreiche Menschen diese Nahrung nicht mehr leisten können. Die Aussicht, dass die Sanktionen zu noch höheren Lebensmittelkosten führen und gleichzeitig das Leisten von humanitärer Hilfe erschweren, ist tatsächlich sehr besorgniserregend.
Was verlangt Ärzte ohne Grenzen?
Wir rufen die amerikanische Regierung dazu auf, umgehend möglichst weit gefasste Ausnahmeregeln für humanitäre Tätigkeiten zu erteilen, um die erwarteten Auswirkungen der Sanktionen abzumildern.
Ausserdem müssen Branchen wie die Schifffahrt, Finanzdienste, Versicherungen und Telekommunikation, von denen die humanitäre Hilfe abhängt, die Zusicherung erhalten, dass humanitäre Aktivitäten von dieser Einstufung ausgenommen sind und die Aufrechterhaltung von grundlegenden Diensten nicht strafbar ist.
Die Erteilung von humanitären Ausnahmeregelungen muss zudem so schnell und einfach wie möglich erfolgen. Niemand, der sich in der humanitären Hilfe engagiert, sollte von diesen Sanktionen etwas zu befürchten haben.
Noch hat die amerikanische Regierung die Möglichkeit, einige negative Auswirkungen dieser Sanktionen für Hilfsorganisation und die jemenitische Bevölkerung zu verhindern. Bleibt zu hoffen, dass sie diese Möglichkeit ergreift.
© Agnes Varraine-Leca/MSF