Mexiko: Die Flucht Richtung USA birgt Gefahren, besonders für Frauen und Kinder

Mutter und Babys im Einwanderungszentrum San Vicente. Januar 2022, Panama.

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Tausende Menschen fliehen aus Süd- und Mittelamerika vor Gewalt und Armut in Richtung USA. Frauen und Kinder sind dabei besonderen Gefahren ausgesetzt und benötigen spezifischen Schutz. ] Aufgrund der restriktiven Einwanderungspolitik der Vereinigten Staaten werden Schutzsuchende wieder nach Mexiko ausgewiesen.

Die Menschenschlange vor der Kommission für Flüchtlingshilfe in Mexiko-Stadt (COMAR) erstreckt sich über zwei Häuserblocks. Brenda*, eine 23-jährige Schwangere, sitzt auf einem Karton auf dem Boden und wartet bis sie an der Reihe ist. Begleitet wird sie von ihrem Partner Julio und ihrer einjährigen Tochter. Wie Tausende andere hoffen sie auf Unterstützung.


Am Busbahnhof im Norden der mexikanischen Hauptstadt treffen täglich Frauen und ihre Familien ein. Sie alle haben sich aus dem Süden über den gefährlichen Weg durch den Darién-Dschungel gewagt, einen fast 100 Kilometer langen Weg zwischen Kolumbien und Panama – durch unbefestigtes Gelände und reissende Flüsse – immer mit der Gefahr von bewaffneten Banden überfallen zu werden. Ihre Hoffnung: am Ende die USA zu erreichen und somit vermeintlich in Sicherheit zu gelangen. Doch in den vergangenen Jahren haben die restriktive Politik und die Praktiken der US-amerikanischen und mexikanischen Regierungen Geflüchtete gezwungen, in Mexiko auszuharren. Dort sind sie oft enormen Unsicherheiten und Gefahren ausgesetzt. Laut dem Institut für Frauen in der Migration (Imumi) sind 40 Prozent der Asylbewerber:innen, die sich an die COMAR wenden, Frauen.

Geflüchteten Camp auf der Plaza de la Repùblica in Rynosa. August 2021, Mexiko.

Auf der Plaza de la Repùblica in Rynosa, im Nordosten Mexikos, leben mehr als 2000 Menschen aus dem nördlichen Dreieck Zentralamerikas unter menschenunwürdigen Lebens- und Sicherheitsbedingungen. August 2021, Mexiko.

© Esteban Montaño/MSF

Unsicherheit und keine medizinische Versorgung

«Vorwärts, vorwärts», schreien erschöpfte Stimmen. Brenda hat Mühe aufzustehen, ohne dabei ihre Tochter Alba loszulassen. Alba, ein kleines Mädchen mit geschwollenen Augen, kann schon laufen, aber sie möchte, dass ihre Mutter sie trägt. Sie ist müde und hungrig. Ihr Körper hat, wie der ihrer Mutter, viel durchleben müssen.


Brenda versucht seit zweieinhalb Monate in die Vereinigten Staaten zu gelangen, aber am Busbahnhof will man ihr kein Ticket verkaufen, wenn sie nicht nachweisen kann, dass sie zur Durchreise berechtigt ist. «Was mich am meisten beunruhigt, ist, dass ich nicht weiss, wie es meinem Baby geht», sagt sie. Sie ist im siebten Monat schwanger. «Überall, von Ecuador bis Mexiko, mussten wir eine Transitgenehmigung einholen und dafür auf der Strasse schlafen, die Sonne und die Kälte ertragen. Ich bin müde und gleichzeitig dankbar, dass wir noch leben, denn im Dschungel, zwischen Kolumbien und Panama, haben wir viele Tote gesehen.»


In Venezuela geboren hatte Brenda nach ihrem Schulabschluss keine Möglichkeiten, ihre Ausbildung fortzusetzen. Sie beschloss, nach Peru zu gehen und dort ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie arbeitete als Kellnerin, und schickte das ersparte Geld ihrer Familie. Vier Jahre später lebte sie mit Julio zusammen und bekam ein kleines Mädchen. Die finanzielle Situation wurde schwierig, und wie Tausende von Menschen in Lateinamerika, waren sie gezwungen, nach einem anderen Weg zu suchen.

Wir mussten uns oft verstecken und weglaufen, um nicht von der Einwanderungsbehörde in Mexiko aufgegriffen zu werden. Am Busbahnhof versuchte dann jemand mir meine Tochter wegzunehmen. Ich habe sie in der Nacht auf dem Boden gestillt. Als ich aufhörte, ihren Mund zu spüren, wachte ich auf und sah einen Mann über dem Baby stehen. Sobald er bemerkte, dass ich wach war, rannte er weg. Ich bin traumatisiert.

Brenda

In Mexiko erleben Frauen häufig Übergriffe und Gewalt, die ihre früheren Traumata, die sie zur Flucht aus ihren Herkunftsländern zwangen, noch verstärken. Im Jahr 2015 stellten die Vereinten Nationen fest, dass etwa 60 Prozent der befragten Asylbewerber:innen aus Honduras, Guatemala und El Salvador vor geschlechtsspezifischer Gewalt fliehen. Durch die Beschränkungen während der Covid-19-Pandemie verschlimmerte sich die Gewalt gegen viele der Frauen, da sie mit ihren Angreifern zu Hause bleiben mussten.

«Wir wissen nicht, was mit uns geschehen wird.»

Lilia* und ihre beiden Töchter sind gezwungen in einer Ecke des Busbahnhofs zu schlafen, der informell «die Höhle» genannt wird. Sie steht jeden Tag um ein Uhr morgens auf, um arbeiten zu gehen. Ihre beiden Töchter, sechs und sieben Jahre alt, kuscheln sich nachts neben sie, nur geschützt durch Pappe und eine Decke für alle drei.


Sie haben viele Versuche hinter sich, den Norden Mexikos zu erreichen und inzwischen wurden die meisten ihrer Sachen gestohlen. Zwischenzeitlich wurden sie sogar inhaftiert. «Wir sind von den Behörden misshandelt und diskriminiert worden. Es sind dieselben, die uns ausrauben und herumschubsen. Einmal, als wir nicht aus dem Bus aussteigen wollten, haben sie uns gedroht, uns unsere Kinder wegzunehmen.»


Wie Brenda litt auch Lilia mit ihren Mädchen unter der Gewalt des Darién-Dschungel: «Wir waren voller Schlamm und es roch sehr schlecht. Es roch nach Tod», erinnert sie sich. «Und wie sollen wir zurückkehren, nachdem wir das alles durchgemacht haben?», fragt sie sich selbst und bedeckt ihr Gesicht mit ihren Händen.

Wir schlafen seit mehr als 20 Tagen in diesem Busbahnhof. Ich kann nicht zurück nach Venezuela gehen. Ich habe meinen anderen Kindern versprochen, dass ich ihnen Geld schicke, damit es ihnen besser geht. Wir haben keine Unterkunft gefunden, in der wir uns sicher fühlen. Meine Knochen schmerzen. Ich bin müde und weiss nicht, was ich tun soll.

Lilia
Wassterstelle für Migrant:innen in der Stadt Coatzacoalcos. März 2021, Mexiko.

Wir bieten den geflüchteten Menschen in Mexiko medizinische und psychologische Grundversorgung sowie Unterstützung bei der Bereitstellung von sauberem Wasser. März 2021, Mexiko.

© Yesika Ocampo/MSF

Sie denken sie haben ihr Ziel erreicht – und werden wieder zurückgeschickt


Immer wieder kommen Busse mit aus den USA ausgewiesenen Familien am Busbahnhof an, meist Frauen mit ihren Kindern. «Sie kommen sehr desorientiert in Mexiko-Stadt an, weil der Ausweisungsprozess aus den Vereinigten Staaten sehr abrupt ist. Wenn sie die Grenze überschreiten, werden sie aufgegriffen und ohne Erklärung zurückgeschickt», sagt Jochi, Gesundheitsexpertin bei Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF), die sich um die humanitäre Notlage in der Hauptstadt kümmert. «Unsere Teams beraten die ankommenden Familien und versuchen, ihnen Werkzeuge an die Hand zu geben, mit denen sie ihren Stress und ihre Gefühle bewältigen können. In Mexiko haben sie Entführungen, Vergewaltigung, Erpressung oder Raub erlebt. Auf ihrem Weg durch den Dschungel, mit ihren Kindern auf dem Arm, wurden sie ebenfalls mit grossem Leid konfrontiert. Sie sind Überlebende. Das Verlassen des Dschungels ist ein Akt des Überlebens.»


Zwischen Januar und September haben Teams von Ärzte ohne Grenzen 17 491 Migrant:innen und geflüchtete Frauen in Mexiko, Honduras und Guatemala behandelt. Dabei wurden 2 542 Beratungen zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit und 2 942 Beratungen zur psychischen Gesundheit geleistet. Dabei haben unsere Teams 51 Fälle von sexualisierter Gewalt festgestellt. Bei den Frauen wurden hauptsächlich Infektionen der Atemwege, Dehydrierung, Haut- und Muskelschäden diagnostiziert. Was die psychische Gesundheit betrifft, stellen die Teams Angststörungen, Depressionen, akute Stressreaktionen und posttraumatische Belastungsstörungen fest.


*Die Namen wurden geändert, um die Identität der Personen zu schützen.

Zwischen Januar und September haben unsere Teams 17 491 Migrant:innen und geflüchtete Frauen in Mexiko, Honduras und Guatemala behandelt. Dabei wurden 2 542 Beratungen zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit und 2 942 Beratungen zur psychischen Gesundheit geleistet.