«Niemand in Aleppo sollte das erleben müssen, was ich erlebt habe»

Amal Abdullah, 36 ans, avant son dernier rendez-vous à l’hôpital de chirurgie reconstructrice de MSF à Amman en Jordanie.

Syrien5 Min.

Eine Patientin von MSF erzählt, wie auch sie vor vier Jahren ihre Heimat verlassen musste. Nach einem Bombenangriff ist sie zurzeit noch immer in Spitalbehandlung.

Den belagerten Bewohnern im Osten Aleppos wurde gesagt, dass sie ihre Häuser verlassen müssen, wenn sie nicht sterben wollen. Während die Menschen sich dort darauf vorbereiten, was als nächstes passiert, erinnert sich unsere Patientin Amal Abdullah* an den Tag vor vier Jahren, als sie das Quartier verliess, in dem sie aufgewachsen war. «Ich wünschte, dass niemand in Aleppo das erleben müsste, was ich erlebt habe», sagt sie. Amal wurde bei einem Bombenangriff schwer verletzt und hält sich zurzeit noch im Spital von Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) in Amman auf. Sie hat mehrere Knochentransplantationen und Folgebehandlungen hinter sich.
«Mitte Juli 2012 wurde uns gesagt, dass wir unser Viertel, Salaheddine, verlassen sollten. Ansonsten würden wir mit den Konsequenzen leben müssen. Ich habe mein ganzes Leben in Aleppo verbracht – das Leben hier war wundervoll. Die Menschen haben sich geholfen, es gab Freiräume, die wirtschaftliche Situation war sehr gut. Ich war 32 Jahre alt, lebte mit meinen Eltern und Geschwistern und arbeitete in einem Einkaufszentrum.

Wir verloren das Leben, das wir hatten

Als die Behörden uns sagten, dass wir unsere Nachbarschaft Salaheddine verlassen sollten, haben ihnen manche Menschen geglaubt. Andere aber sagten, ‚Nein, wir werden nicht bombardiert‘. Viele wollten ihren Besitz nicht zurücklassen, andere wussten nicht, wohin sie gehen sollten. Meine Familie und ich zogen zu Verwandten in das Viertel Al Kalaseh in Zentral-Aleppo, aber mein Vater blieb zurück.
Hin und wieder fuhr ich zurück nach Salaheddine, um meinen Vater zu sehen oder ein paar Kleidungsstücke abzuholen. Das war sehr riskant: Es gab Bombardements, und auch in den Strassen gab es Gefechte. Nur wenige Autos waren zu sehen, es gab keinen Strom, kein Wasser, keine Möglichkeit zu kommunizieren.
In Al Kalaseh war es dagegen anfangs ruhig und friedlich. Das Viertel liegt im Herzen Aleppos, in der Nähe der Zitadelle und des grossen Gemüsemarkts. Es war nicht vollständig ruhig, denn wir konnten die Helikopter und Flugzeuge hören, aber für einige Wochen lebten wir normal weiter. Wir trafen andere, organisierten ein Familientreffen im Haus meiner Tante, und ich ging zum Zahnarzt.

«Ich sah ein helles Licht und hörte eine laute Explosion»

Am 1. August war ich abends mit meinem Cousin auf dem Weg nach Hause, als in der Nähe ein Haus von einer Bombe getroffen wurde. Fremde Leute zogen uns in ein Gebäude, aber wir entschieden, einen Sprint zum nahgelegenen Haus eines Verwandten zu machen. Während wir rannten, schlug eine weitere Bombe ein. Die Strasse war voller Menschen in Panik: Alle rannten und schrien durcheinander. Verletzte lagen auf dem Boden. Wieder zogen uns Fremde in ein Haus und boten uns Schutz in einer Wohnung im 1. Stock.
Die Menschen zündeten Kerzen an. Ich setzte mich auf ein Sofa, um darauf zu warten, dass der Angriff vorübergehen würde. Mitglieder meiner Familie riefen mich fünf oder sechsmal an. Sie wollten wissen, wo ich war, und erzählten mir, dass sich die Situation verschlimmerte.
Im nächsten Moment sah ich ein helles, starkes Licht und hörte eine laute Explosion. Ich war bei vollem Bewusstsein und schrie, aber ich fühlte keine Schmerzen. Die Frau, die vorher neben mir gestanden hatte, lag nun tot auf dem Boden. Ich wurde in eine Decke eingewickelt und runtergetragen. Ich hörte, wie ein Rettungswagen gerufen wurde.
Im Wagen wurde ich von Männern umringt, sie fragten mich, ‚Wie ist dein Name? Wo ist deine Familie? Wo ist dein Handy?‘ Sie konnten mein Handy nicht finden, aber ich schaffte es, ihnen die Telefonnummer meiner Schwester zu sagen. Als sie den Anruf entgegennahm und meinen Namen hörte, dachte sie, ich wäre tot. Aber ich war nicht tot, ich war nur schwer verletzt.

«Zehnstündige Operation»

Im Feldspital Abdul Aziz gaben sie mir ein Narkosemittel und versuchten, die Blutungen zu stoppen. Die Kraft der Explosion hatte mich gegen die Wand geschleudert, wodurch die Knochen in meinem Ellbogen zerschmettert wurden. Mein Bein war durch die Splitter fast abgetrennt worden, und ich hatte Verletzungen an Händen, Armen, Rippen, an der Brust und in der Bauchgegend.
Ich wurde in das Al Razi-Spital überwiesen. Es war eine hektische und gefährliche Reise, denn es fielen immer noch Bomben, und ich blutete weiter. Das ganze Gebiet wurde bombardiert. Sie trugen mich direkt in den Operationssaal, und ich erinnere mich noch wie der Chirurg mich bat, einen Koranvers zu zitieren, bevor die Wirkung der Narkose einsetzte. Zehn Stunden lang wurde ich operiert, von 10 Uhr abends bis zum nächsten Morgen um 8 Uhr – und ich war weitere fünf Tage bewusstlos.

«Am schlimmsten war die Angst»

Als ich aus dem Spital entlassen wurde, gab es keinen sicheren Ort, wohin ich gehen konnte. Ich hatte schwere Knochenverletzungen, aber das Schlimmste war die Angst. Jedes Mal, wenn ich ein Flugzeug hörte, wurden die Schmerzen schlimmer.
Tag und Nacht hörten wir die Bomben, und eine verirrte Kugel verletzte meine Schwester im Garten. Wieder und wieder durchlebte ich den Tag, an dem ich verletzte wurde. Nach einem Monat schafften wir es, die Stadt zu verlassen und nach Jordanien zu fliehen.
In den vier Jahren, sie seit dem Angriff vergangen sind, hatte ich zwanzig chirurgische Eingriffe, um die Verletzungen an meinem Bein, Arm und der Hand zu beheben. Nach einem Jahr mit mehreren Knochentransplantationen und Folgebehandlungen im MSF-Spital für wiederherstellende Chirurgie von in Amman werde ich nun bald entlassen. Ich gehe mit Krücken und habe ein künstliches Gelenk in meiner Hand, so dass ich sie nun frei bewegen kann.

«Ich wünschte, dass niemand in Aleppo das erleben müsste, was ich erlebt habe»

Wenn ich sehe und höre, was jetzt in Aleppo passiert – die Bomben und die Belagerung – fühle ich mit den Menschen, die dort zurückgelassen wurden. Ich erinnere mich daran, wie es war, mit dieser konstanten Gefahr zu leben und dass man sich kaum fortbewegen durfte. Ich wünschte, dass niemand in Aleppo das erleben müsste, was ich erlebt habe.
Ich hoffe, dass ich bald wieder wie jedes normale Mädchen leben kann. Manchmal werde ich traurig, wenn die Leute fragen, ‚Was ist mit dir passiert?‘. Aber das ist mein Schicksal, und ich muss es akzeptieren. Ich hatte Glück, dass ich eine so gute medizinische Behandlung bekommen habe, und hoffentlich kann ich wieder ganz gesund werden.
*Name auf Bitte der Patientin geändert