Syrien: Grosse psychische Not unter den Menschen im syrischen Al-Hol-Camp
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Die im Al-Hol-Camp festgehaltenen Frauen, Männer und Kinder haben mit vielen Problemen zu kämpfen: begrenzter Zugang zu Wasser, unzureichende sanitäre Einrichtungen und eine Gesundheitsversorgung, die wegen restriktiver Sicherheitsvorkehrungen nur schlecht zugänglich ist. Nur behelfsmässige Zelte, die im Winter anhaltenden Regenfällen und im Sommer der prallen Sonne ausgesetzt sind, schützen die Menschen vor den Naturgewalten.
Es ist Vormittag, die Sonne kämpft sich durch die dichte Wolkendecke. Der unerbittliche Regen spiegelt die düstere Stimmung des Lebens im Camp wider, in dem mehr als 40 000 Menschen leben. Soweit das Auge reicht, reihen sich Zelte aneinander. Und jedes einzelne beherbergt Menschen mit ihrer eigenen Geschichte von Vertreibung, Mühsal und dem Kampf ums Überleben.
Das Camp ist de facto ein Freiluftgefängnis. Hier werden Menschen festgehalten, die bei den Kämpfen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und dem Islamischen Staat (IS) vertrieben wurden. Im Oktober 2023 waren 93 Prozent der Bewohner:innen des Camps Frauen und Kinder; 65 Prozent waren unter 18 Jahre alt und 51 Prozent sogar unter 12.
Viele dieser Menschen haben zuvor traumatische Ereignisse wie Gewalt und Vertreibung erlebt. Die Zustände im Camp haben ihr Leid nur noch verschlimmert. Posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen und Angstzustände sind bei den Bewohner:innen weit verbreitet und beeinträchtigen ihr seelisches Wohlbefinden.
«Sechs Monate lang wusste ich nichts über den Verbleib meines Sohnes und meiner Geschwister.»
«Mein Mann wurde getötet, als ISIS 2014 Deir ez-Zor kontrollierte. Er wurde beschuldigt, mit der Freien Syrischen Armee (FSA) zusammenzuarbeiten. Ich blieb mit unseren fünf Töchtern und unserem Sohn zurück. Wir wurden vertrieben und gerieten unter Beschuss. Dabei wurden wir getrennt: Mein 11-jähriger Sohn war mit seinen Onkeln im Dorf und ich mit meinen fünf Töchtern in der kleinen Stadt Hajin. Sechs Monate lang wusste ich nichts über den Verbleib meines Sohnes und meiner Geschwister. Wir hatten kein Geld und waren hilflos. Wir mussten Gras essen, um zu überleben. Niemand half uns oder setzte sich für uns ein», sagt die 42-jährige Um Othman (Name geändert) und Mutter von sechs Kindern aus Deir ez-Zor im Nordosten Syriens.
Um Othman hat das Camp seit Jahren nur einmal verlassen, und das für einen Notfall: «Ich verliess das Camp zum ersten Mal nach drei Jahren, weil meine 6-jährige Tochter sich beim Spielen mit einem anderen Kind verbrannt hatte», erzählt sie mit zitternder Stimme, während ihr Tränen über die Wange laufen. «Nach 19 Tagen im Spital von al-Hasaka erlag sie ihren Verletzungen. Dabei hatte sie während der Vertreibung sogar schon einen Motorradunfall überlebt.» Das Gewicht der Erinnerungen lastet schwer auf ihr, und bei der Erwähnung des Schicksals ihrer Tochter wird ihre Trauer spürbar.
«Jetzt weiss ich, dass es im Leben nicht nur darum geht, sich um andere zu kümmern, sondern auch um sich selbst.»
Um Khaled (Name geändert), 35 Jahre alt, lebt seit über fünf Jahren mit ihren drei Kindern im Al-Hol-Camp. Sie nimmt in unserer Klinik an Sprechstunden für psychische Gesundheit teil.
«Das Leben unter diesen Umständen hat meine mentale Gesundheit beeinträchtigt. Ich kann nachts nicht schlafen. Ich denke immer viel zu viel nach und schweige; ich habe die Fähigkeit verloren, mich auszudrücken. Wenn in unserer Gesellschaft jemand deprimiert ist, geht man davon aus, dass er besessen ist und Exorzismus hilft. Aber ich entschied mich für den wissenschaftlichen Ansatz in der Klinik von Ärzte ohne Grenzen. Es war mir peinlich, meinen Nachbarn und Freunden zu erzählen, dass ich psychologische Sprechstunden besuchte. Ich hatte Angst, dass sie mich für verrückt erklärten. Die Sitzungen helfen mir sehr. Ich weiss jetzt, dass das Leben nicht nur darin besteht, sich um andere zu kümmern. Man muss sich auch um sich selbst kümmern!»
«Ich wünschte, ich könnte das Camp eines Tages verlassen, aber ich habe Angst, dass ein bittereres Leben auf mich wartet. In der Nähe des Camps gibt es eine kleine Stadt. Ich habe mich daran gewöhnt, Zelte zu sehen. Wenn ich die Häuser der Stadt sehe, werde ich ganz nostalgisch.»
Tätigkeiten im Bereich der psychischen Gesundheit sind ein wichtiger Teil medizinischer Massnahmen. Sie geben Menschen die Möglichkeit, ihre Gefühle auszudrücken, schwierige Erfahrungen zu verarbeiten und Strategien für den Umgang mit ihnen zu erlernen. Sie umfassen Einzelstunden für leichte bis schwere psychische Erkrankungen sowie psychosoziale Gruppenarbeit, einschliesslich Psychoedukation und Freizeitangeboten. Unsere Patient:innen reden auch in ihrem Umfeld positiv über die psychologischen Angebote. «Statistiken von 2023 zufolge kommen 70 Prozent der neuen Patient:innen infolge von Empfehlungen durch Verwandte, Freund:innen und Mitglieder der Gemeinschaft», so Sama, Verantwortliche für psychologische Hilfsangebote bei Ärzte ohne Grenzen.
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