Rohingya in Bangladesch: Leben in der Sackgasse
© Saikat Mojumder/MSF
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Vor fünf Jahren sind rund 700 000 Rohingya vor Gewalt und Verfolgung in ihrem Heimatland Myanmar nach Bangladesch geflohen. Mittlerweile leben fast eine Million Rohingya in Cox’s Bazar, im grössten Geflüchtetencamp der Welt, wo sie von humanitärer Hilfe abhängig sind. Erbärmliche Lebensbedingungen, keine Jobs und keine Perspektiven: Eine ganze Generation steckt in einer Sackgasse.
Razi hat 38 Jahre lang als Verwaltungsangestellter für das Innenministerium Myanmars gearbeitet. 1982 wurde ihm seine Staatsbürgerschaft aufgrund seiner Zugehörigkeit zu den Rohingya aberkannt. Seine Rechte und Freiheiten wurden zusehends eingeschränkt, bis er schliesslich nach Bangladesch floh, wo er in einem Geflüchtetenlager unterkam. Er erinnert sich: «Nach der Erlangung der Unabhängigkeit von Grossbritannien 1948 hat uns die Regierung als Staatsbürger anerkannt. Alle, egal welcher Ethnie sie angehörten, hatten die gleichen Rechte, niemand wurde diskriminiert. (...) Das änderte sich 1978, als die Operation «Drachenkönig» gestartet wurde. Bei dieser Bürgerregistrierung wurde festgelegt, wer Bürger von Myanmar war und wer von Bangladesch. (...) Schliesslich wurde uns von den Behörden Myanmars die Staatsbürgerschaft entzogen. (...) Dennoch durften wir da noch wählen, bis uns 2015 auch dieses Recht verweigert wurde. Eines Morgens [im Jahr 2017] hörten wir Schüsse. (...) Am Tag darauf erfuhren wir, dass Rohingya getötet worden waren. Als wir hier ankamen, waren wir voller Hoffnung. Aber jetzt fühlen wir uns wie in einer Sackgasse.»
Tayba Begum ist Mutter von sechs Kindern. Sie verliess Myanmar mit nichts als den Kleidern, die sie auf dem Leib trug. Sie blickt zurück: «Meine Zwillingsmädchen Nur Ankis und Nur Bahar waren bei unserer Flucht gerade mal sechs Monate alt. Ich rannte mit ihnen. (...) Im Dauerregen durchquerten wir Regenwälder und schlammige Strassen, um Bangladesch zu erreichen. Es war eine sehr beschwerliche Reise, gerade mit den Kindern. Hatte man die Grenze einmal erreicht, ruhten sich die Menschen aus, wo sie konnten; es gab jedoch nirgends einen Unterstand. Wir sassen bei strömendem Regen unter Büschen oder Bäumen und hofften, dass Hilfe kommen würde. Um zu überleben, assen wir alles, was wir finden konnten. Meine Töchter wurden immer schwächer. Wenn ich versuchte, ihnen etwas zu essen zu geben, mussten sie erbrechen. Sie haben lange gelitten, weil es bei unserer Ankunft schwierig war, an Medikamente zu kommen. Nach ein paar Tagen [in Cox’s Bazar] stellte man uns Unterkünfte aus Tüchern und Bambus zur Verfügung. Seitdem leben wir hier im Geflüchtetenlager. Meine Zwillinge sind nun fünf Jahre alt. Seit fünf Jahren leben wir im Elend. Ausser einer Unterkunft haben wir nicht viel. Wir hängen von Ernährungshilfe ab. Wir machen uns Sorgen wegen der Bildung unserer Kinder und wie wir an Kleider für sie kommen sollen. Ich kann ihnen nicht das bieten, was sie brauchen, weil ich kein Geld habe. Manchmal verzichte ich auf Essen für mich, um es zu verkaufen und davon etwas für die Kinder zu kaufen.»
Auch Nabi Ullah ist 2017 aus seiner Heimat geflohen. Auf der Flucht starben mehrere Personen aus seiner Gruppe, darunter die Eltern und Geschwister seiner Frau. Fünf Jahre später fragt er sich, was die Zukunft für seine Kinder bereithält. Er erzählt: «Ich habe einen Sohn und zwei Töchter. Mein Sohn ist hier im MSF-Spital zur Welt gekommen. Er ist eineinhalb Jahre alt. Meine Töchter sind in Myanmar geboren. Wir sind auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Unsere Lage ist katastrophal. Ich gehe in die Klinik von Ärzte ohne Grenzen, wenn ich krank bin. Auch meine Kinder bringe ich bei Beschwerden dorthin. Ich mache mir Sorgen um sie. Ich möchte, dass sie Zugang zu Bildung haben, das ist das wertvollste Gut überhaupt. Das Leben hier wird noch schwieriger, wenn unsere Kinder ohne Ausbildung aufwachsen.»
Anwar, 15 Jahre, erinnert sich noch gut daran, wie er vor fünf Jahren aus Myanmar fliehen musste. Damals war er ein fleissiger Schüler mit grossen Plänen. Heute erfüllt ihn der Gedanke an die Zukunft mit Furcht. Er erzählt: «Als wir das Land verlassen mussten, steckte ich mitten in der Schulausbildung. Die Flucht setzte dem jäh ein Ende. Ich war immer ein guter Schüler mit guten Noten gewesen. Das Lernen macht mir Spass, doch jetzt geht das nicht mehr. Ich erhalte nirgends die nötigen Bücher. In den Geflüchtetencamps für Rohingya gibt es nur Grundschulbildung, sonst nichts. Unsere Schulbildung ist dort geblieben, wo wir sie zurückgelassen haben. Unsere einzige Möglichkeit, etwas zu lernen, ist, wenn Lehrkräfte aus unserer Gemeinschaft die Rohingya-Kinder zusammentrommeln, um sie zu unterrichten. Das machen sie mit Feuereifer. Manche meiner Freunde verpassen Lektionen, weil sie zum Lebensunterhalt ihrer Familie beisteuern müssen. Ich fühle mit ihnen. Alles, was man lernt, kann man nachher auch an andere weitergeben. Nur so kommt unsere Gemeinschaft weiter und nur so kann meine Generation etwas Nützliches tun.
Mein Traum war es immer, Arzt zu werden, etwas Nützliches für meine Gemeinschaft zu tun. Seit meiner Kindheit sehe ich, wie Ärzte den Menschen helfen und dabei ihr Bestes geben. Allmählich begreife ich, dass dieser Traum für mich vielleicht nie wahr werden wird. Dennoch bin ich glücklich, wenn ich Unterricht habe und meine Freunde treffe. Beim Lernen und Spielen versuchen wir, das Beste aus unserer Lage zu machen. Das Leben im Camp ist nicht einfach. Was mein Vater verdient, reicht für unsere Familie nicht aus. Ich möchte allen jungen Menschen auf der Welt eines sagen: Nutzt die Möglichkeiten, die sich euch bieten, und lernt so viel ihr könnt! Ich und die anderen geflüchteten Rohingya hier haben diese Chance nicht.»
2022 leben mehr als 900 000 Rohingya in den Geflüchtetencamps in Bangladesch. Sie dürfen nicht arbeiten und haben keinen Zugang zum Bildungssystem des Landes. Zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse sind sie auf humanitäre Hilfe angewiesen – sie haben keine andere Wahl. Die ungewisse Zukunft stellt für sie und ihre Kindern eine tägliche Belastung dar.
Ärzte ohne Grenzen unterstützt die Hilfeleistungen der bangladeschischen Behörden für die geflohenen Rohingya. Dazu betreibt die Organisation in den Camps von Cox’s Bazar neun Gesundheitszentren und hilft beim Aufbau und Unterhalt der sanitären Einrichtungen. In Myanmar bieten unsere Teams den im Land gebliebenen Rohingya weiterhin Grundversorgung und psychologische Unterstützung und organisieren bei Bedarf die Überweisung in Spitäler.
© Saikat Mojumder/MSF