Rückkehr nach Hause: Versteckte Minen und Sprengfallen fordern immer mehr Opfer
Syrien4 Min.
Die Zahl der Patientinnen und Patienten in Nordost-Syrien mit Explosionsverletzungen hat sich zwischen November 2017 und März 2018 verdoppelt. Die Hälfte der Opfer waren Kinder.
Durchschnittlich ein Minenopfer pro Tag haben wir in den vergangenen viereinhalb Monaten behandelt. In dem von uns unterstützten Spital in Hassakeh kamen 75 Prozent der Patientinnen und Patienten aufgrund von Verletzungen durch Landminen, Sprengfallen und andere Explosionen. Diese alarmierende Entwicklung beobachten wir vor allem in den Regionen Raqqa, Hassakeh und Deir as-Zor, in denen die Menschen allmählich in ihre Häuser zurückkehren. Dort stossen sie häufig auf versteckte Sprengfallen.
Im Nordosten Syriens unterstützt MSF zwei Spitäler: eines in Tal Abyad, das vor allem Verletzte aus der Region Raqqa aufnimmt, und eines in Hassakeh. Letzteres ist eine neu eingerichtete Gesundheitseinrichtung, die vor allem für Einwohner aus Deir as-Zor in erreichbarer Nähe liegt. Allein im vergangenen Jahr zwang die Gewalt in der Region Deir as-Zor über 254‘000 Menschen zur Flucht, die meisten von ihnen mehrmals. Nun, da die Kämpfe in den Regionen Raqqa, Hassakeh und Deir as-Zor abflauen, kehren die Menschen in ihre Häuser zurück. Ein gefährliches Unterfangen, wie die Geschichte von Humaid und fünf seiner Töchter zeigt.
Bitte tut etwas gegen die Minen. Wir müssen unsere Kinder schützen.
Humaid, 45 Jahre alt, ist aus Dhiban in Deir as-Zor. Er hat zwei Frauen und zehn Kinder, darunter Sedar (4), Dumua (5), Butul (6), Arimas (9) und Lamis (13), die durch eine Sprengfalle schwer verletzt wurden.
«Wir flohen aus Dhiban wegen der Kämpfe. Als sich die Situation beruhigt hatte, bin ich zurückgekehrt, um nach dem Haus zu sehen. Ich habe keine verdächtigen Gegenstände entdeckt, also brachte ich auch meine Familie zurück.»
«Zwei Monate später, ich fuhr gerade Auto, da kam einer meiner kleinen Neffen und erzählte mir, dass fünf meiner Töchter ins Krankenhaus eingeliefert worden seien, wegen einer Explosion. Sie hatten gespielt und geholfen Feuerholz auf dem Dach zu sortieren, als etwas, das hinter einem Wollballen versteckt war, in die Luft flog und sie beinahe tötete.»
«Ich hastete in die Klinik und was ich sah, brach mir das Herz. Die Krankenschwestern vor Ort wussten nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Einer meiner Töchter gaben sie sogar Blut mit einer falschen Blutgruppe. An einem Punkt musste ich einen der Mediziner anschreien: `Bitte, tun Sie etwas!´ Meine Tochter lag im Sterben und erst dann hat er seine Jacke ausgezogen und um ihr Bein gewickelt.»
«Vor dem Krieg hatten wir qualifizierte Ärzte, aber sie alle flohen wegen der Kämpfe.»
Viele der Ärztinnen und Ärzte sowie des Pflegepersonals flohen aufgrund des Krieges. Sie hinterliessen eine grosse Lücke. Die Zurückgebliebenen sahen sich gezwungen zu improvisieren, um Hilfe unter den besonders schweren Bedingungen anbieten zu können.
«Nach einigen Erste-Hilfe-Massnahmen und zwei Operationen sagten sie, wir könnten die Mädchen nach Hause bringen, aber ich entschied mich dazu, sie stattdessen nach Hassakeh zu bringen. Jeder half uns. Wir bereiteten zwei Autos vor. Unglücklicherweise blieb eines unterwegs liegen. So brauchten wir mehr als vier Stunden und es war bereits dunkel, als wir ankamen. Am Checkpoint gab es keine Probleme, als sie sahen, dass es sich um einen Notfall handelt. Mein Bruder hatte von dem Krankenhaus am Eingang der Stadt gehört. Wir wussten nicht, dass es kostenlos war und wir wussten auch nicht, dass eine Organisation wie MSF es unterstützt.»
«Schaut Euch Sedar an. Keine Beine unterhalb der Knie. Sie ist verwirrt, denn sie spürt noch manchmal den Schmerz in ihren (Phantom-) Füssen. Sie weint. Die Ärzte hier helfen ihr sehr gut und ebenso meinen anderen Töchtern. Andernfalls hätte ich sie nach Damaskus gebracht. Für sie würde ich über das Unmögliche hinausgehen.»
«Wenn früher jemand medizinische Betreuung brauchte, konnten wir ins Krankenhaus nach Al-Mayadin fahren oder zu einer der privaten Kliniken. Als der Islamische Staat kam, riegelten sie die Stadt ab. Niemandem war es erlaubt, sie zu verlassen. Sie setzten die Ärzte unter Druck, bis sie gingen. Wenn von diesem Moment an jemand krank wurde, brauchte er entweder Verwandte, die Medikamente hatten, oder man starb. Mittlerweile sind viele Einrichtungen durch die Luftangriffe zerstört oder einfach geschlossen. Manche haben wiedereröffnet und bieten unterschiedliche Spezialbehandlungen an, allerdings ohne geeignete Ausrüstung.»
Der Unfall, bei dem die Mädchen verwundet wurden, ereignete sich am 5. Februar. Am 13. März wurden sie aus dem Krankenhaus entlassen. Der Ältesten musste aufgrund der Schwere ihrer Verletzungen ebenfalls ein Bein teilweise amputiert werden.