Sarah: «Nach dem Tod meiner Tochter hatte ich Mühe, mit Schwierigkeiten umzugehen»
Syrien5 Min.
Seit dem Ausbruch des Krieges in Syrien hatte Sarah* mit vielen Verlusten zu kämpfen, allen voran mit dem Tod ihres Mannes und dem ihrer ältesten Tochter. Dank der psychologischen Betreuung in der Klinik von MSF in Baalbek hat sie es geschafft, diese schwere Zeit durchzustehen.
Nachdem ihr Mann infolge der bewaffneten Auseinandersetzungen südlich von Aleppo ums Leben gekommen war, floh die 24-jährige Sarah mit ihren fünf Kindern Anfang 2017 in den Libanon. Der Tod ihres Mannes veränderte Sarahs Leben von Grund auf. Als er nicht mehr da war, hatte sie mit einem Mal jegliches Sicherheitsgefühl verloren. Da der Ernährer der Familie so plötzlich fehlte, musste sie mit den Kindern zur Familie ihres Mannes in den Libanon ziehen.
Sarah verliess ihr Zuhause, um in einem fremden Land auf engstem Raum mit anderen Familien zusammenzuleben. «Meine Kinder hatten früher eigene Zimmer», erzählt sie, «aber jetzt schlafen sie da, wo sie zwischen den Verwandten gerade Platz finden.» Hier wohnen 30 Menschen zusammen in einem Haus, von denen nur einer über regelmässige Einkünfte verfügt. «Mein Mann kümmerte sich früher um alles, ich hatte ein gutes Leben. Als er starb, hatte ich das Gefühl, es sei auch mit meinem Leben, meiner Zukunft und der meiner Kinder nun vorbei. Meine Kinder waren plötzlich wie Waisenkinder», fügt sie hinzu.
«Ich rief ihren Namen, aber sie antwortete nicht»
Das Leben als Flüchtlingsfamilie im Libanon war nicht einfach. Richtig schwierig wurde es jedoch, als Sarahs älteste Tochter Shahd starb. Sie kam im September 2017 bei einem Elektrounfall ums Leben, neun Monate nach der Ankunft der Familie im Land.
Dies war wahrscheinlich das erschütterndste Ereignis in Sarahs Leben. Nach all dem, was sie durchgemacht hatte, verlor Sarah mit dem Unfalltod Shahds jede Fähigkeit, mit Schwierigkeiten umzugehen. Sie verfiel in Depressionen.
«Ich war auf dem Dach und hängte Wäsche auf, als Shahd zu mir wollte. Plötzlich hörte ich sie rufen: Mama, Mama. Als ich sie erreichte, lag sie am Boden, ein Stromkabel in der Hand. Vielleicht war sie gestolpert und hatte im Fallen danach gegriffen. Ich rief laut ihren Namen, aber sie antwortete nicht. Ich rief noch einmal ihren Namen, und dann hörte ich nicht mehr auf zu schreien. Die Nachbarn konnten mich hören, aber Shahd nicht.»
Seit diesem Tag hatte Sarah jede Kraft verloren und fühlte sich schuldig, weil sie ihre Tochter nicht hatte beschützen können. Sie konnte auch das Dach nicht mehr betreten. «Ich hasse dieses Gebäude», sagt Sarah. «Jedes Mal, wenn ich es sehe, erinnert es mich an den Tod meiner Tochter.» Auch mehrere Monate danach macht sich Sarah immer noch Vorwürfe.
Sarah hat viele von Shahds Sachen behalten: ihre Haarbürste, ihre Kleider, sogar ihr Lieblingsspielzeug. Sie schaute diese Sachen an, wenn die anderen Kinder eingeschlafen waren, und bekam jedes Mal feuchte Augen. Ihre Tochter war der Mensch gewesen, der ihr am nächsten gestanden hatte. Gemeinsam hatten sie um Shahds Vater getrauert.
Sarahs Zustand der Trauer und Verzweiflung dauerte lange an. Ihr Gemütszustand begann sich auch auf ihren Alltag auszuwirken, und sie konnte kaum mehr ihrer Verantwortung für die Kinder nachkommen. Sie war aber nicht die einzige in der Familie, die litt.
Die psychische Gesundheit von Sarahs jüngstem Sohn hatte sich nach dem Tod der Schwester ebenfalls verschlechtert, da sie sich vorher stets um ihn gekümmert hatte. Er hörte auf zu essen und bekam Schlafprobleme. Ausserdem weinte er ständig.
Sarah erzählt: «Ich konnte ihm nicht helfen, und darum ging ich zur nahegelegenen MSF-Klinik in Baalbek und bat um psychologische Betreuung.»
«Seit ich im Libanon war, ging ich kaum mehr aus dem Haus, um nicht die beleidigenden Worte der Leute zu hören. Aber ich besuchte immer meine Therapiestunden und begleitete meinen Sohn zu seinen. Mein Leben beschränkte sich auf die Hausarbeit, die Kinder und die Besuche in der Klinik von MSF.»
Psychologische Betreuung war die einzige Lösung für meine Probleme»
Die Aufgabe von Najwa, der Psychotherapeutin in der MSF-Klinik in Baalbek, war nicht einfach, da sowohl Mutter als auch Kind psychologische Unterstützung benötigten und ihre Beschwerden sich wechselseitig auswirkten.
«Wenn ich Najwa sah, seufzte ich immer erleichtert auf», berichtet Sarah. «Ich erzählte ihr von dem, was passiert war, und von meinen Beschwerden. Najwa half mir, Lösungen zu finden. Sie hob vor allem die guten Seiten in meinem Leben hervor. Sie stärkte meinen Glauben daran, dass ich wichtig bin und meine Kinder auf mich angewiesen sind. Für meinen Sohn hingegen war Najwa eine Fremde. Es fiel ihm nicht leicht, Vertrauen zu ihr zu fassen.»
Nach und nach gelang es Najwa jedoch, das Misstrauen von Sarahs Sohn zu überwinden. Dank ihrer Unterstützung verbesserte sich sein Zustand deutlich. Najwa entdeckte sein Zeichentalent und auf dem Papier konnte er seinen Gefühlen Ausdruck verleihen. Sarah stellte fest, dass er ruhiger wurde.
Ihre Tochter, ihren Mann und ihr Haus in Aleppo kann sie nicht vergessen und der schwierige Alltag ist nicht leichter geworden. Zudem vermisst sie immer noch einige elementare Dinge für sich und ihre Kinder. Aber die psychologische Betreuung hat ihr geholfen, positiver in die Zukunft zu blicken und ihre Rolle als Mutter besser wahrzunehmen. «Shahd ist gegangen, aber ihre Geschwister sind noch da. Es ist jetzt meine Verantwortung, für sie zu sorgen», erklärt Sarah.
Die einzige Hoffnung für Sarah – wie für viele syrische Flüchtlinge – besteht nun darin, dass Syrien wieder zu einem sicheren Land für sie und ihre Kinder wird. Vielleicht kann sie eines Tages wieder nach Aleppo zurückkehren und ein einigermassen normales Leben führen. Die Kinder würden wieder zur Schule gehen und ein wenig von der Lebensfreude zurückgewinnen, die Kinder normalerweise kennen.
*Name wurde geändert.