«Viele der nach Guatemala Abgeschobenen stehen hier vor einem Abgrund ohne Ausweg»
© MSF/Esteban Montaño
Psychische Gesundheit6 Min.
Seit November 2021 leistet ein Team der internationalen Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) medizinische Versorgung für Migrant:innen und Deportierten im guatemaltekischen Tecún Umán an der Grenze zu Mexiko. Interview mit Dr. Miriam Hernández, Verantwortliche für unsere mobile Kliniken vor Ort.
Wie jede Grenzstadt, so ist auch Tecún Umán hektisch und laut. Jeden Tag ist die Gegend rund um die Brücke über den Suchiate, die Guatemala mit Mexiko verbindet, von früh bis spät überfüllt mit Menschen, die kommen und gehen. An Werk- wie Feiertagen, bei Wind und Wetter, zu jeder Tages- und Nachtzeit: Der Menschenstrom in Tecún Umán bricht nie ab.
Aufgrund ihrer Lage wurde die Grenzstadt zu einem Migrations-Hotspot in der Region. Täglich passieren tausende Menschen die 30 000 Einwohner zählende Stadt im äussersten Westen Guatemalas. Für die einen ist dies der letzte Halt, ehe sie über den Bundesstaat Chiapas nach Mexiko gelangen. Für die anderen ist es eine Station auf dem Rückweg, nachdem sie aus einem der mexikanischen Abschiebegefängnisse, den so genannten «Migrationszentren», oder aus einer Haftanstalt in den USA, wo sie im Rahmen der Pläne der beiden Staaten zum Stopp der Migration nach Norden festgehalten werden, abgeschoben werden.
Viele sind bei ihrer Ankunft in der Grenzstadt gesundheitlich angeschlagen, für eine Weiterreise fehlen ihnen die Mittel. Ausserdem stellen die zahlreichen Gefahren und Bedrohungen, mit denen sie auf ihrer Reise konfrontiert wurden, eine emotionale Belastung für sie dar.
«Die Stadt kann den Andrang von Migrant:innen nicht mehr bewältigen, es kommen einfach zu viele», sagt Dr. Miriam Hernández. Die mexikanische Ärztin arbeitet seit 2016 für Ärzte ohne Grenzen in Mexiko und ist derzeit für die Leitung der mobilen Teams in Tecún Umán zuständig.
Was macht Ärzte ohne Grenzen in Tecún Umán?
Dr. Miriam Hernández: «Wir versorgen verschiedene Gruppen von Migrant:innen: solche, die auf der Durchreise nach Mexiko und in die USA sind; Guatemaltekinnen und Guatemalteken, die aus Mexiko und den USA nach Guatemala abgeschoben wurden; und schliesslich auch vereinzelte Asylsuchende. Unsere interdisziplinären Teams arbeiten an drei Standorten: am Busterminal, im Rückkehrzentrum und in unserem Spital. Sie bestehen aus Fachleuten auf den Gebieten Allgemeinmedizin, Krankenpflege, Psychologie, Gesundheitsförderung, Sozialarbeit und Logistik. Wir bieten kostenlose und vertrauliche ärztliche Konsultationen, psychische Betreuung und Aktivitäten zur Gesundheitsförderung an, verteilen Informationsmaterial und Trinkwasser.
Mit welchen Krankheitsbildern sind Sie hier konfrontiert?
Dr. Miriam Hernández: «Im Rückkehrzentrum klagen viele Menschen über gesundheitliche Beschwerden im Zusammenhang mit ihrer Ausschaffung aus den mexikanischen ‹Migrationszentren›. Manche von ihnen waren stunden-, andere tagelang unterwegs. Viele leiden unter Gliederschmerzen und an Atemwegserkrankungen. Wegen des minderwertigen Essens, das sie in der Abschiebehaft bzw. auf der Rückreise bekommen, ist auch Durchfall ein sehr häufiges Problem. Unter ihnen gibt es zahlreiche Erwachsene, die alleine unterwegs sind, Familien und unbegleitete Minderjährige. Zweimal in der Woche kommen Busse voller Kinder an, die nach Guatemala abgeschoben wurden. Das ist besonders schockierend.
Am Busterminal behandeln wir auch Menschen anderer Nationalitäten. Manche weisen psychologische Störungen auf, weil sie in ihren Herkunftsländern oder auf der Reise Gewalt erlebten. Nicht selten wurden diese Menschen von Schleppern, so genannten ‹Koyotes›, erpresst, von der Polizei misshandelt oder von gemeinen Kriminellen oder kriminellen Banden angegriffen. Viele unserer Patient:innen erlitten einen Nervenzusammenbruch oder körperliche Verletzungen als Folge davon. Immer häufiger behandeln wir auch Menschen, die ihre Medikamente gegen chronische Erkrankungen wie Diabetes und Bluthochdruck nicht einnehmen können. Das kommt daher, dass unter den Migrant:innen immer mehr ältere Menschen sind.
Ausserdem versorgen wir auch Asylsuchende, die uns von einer anderen Organisation zugewiesen werden. Aber aufgrund der Sicherheitsmassnahmen sind das nur vereinzelte Fälle. Viele halten sich seit Monaten oder sogar Jahren in Tecún Umán auf – ohne Zugang zu medizinischer Versorgung. Das öffentliche Gesundheitswesen kommt dem enormen Bedarf einfach nicht nach, doch auch Ausländerfeindlichkeit ist mit schuld daran, dass diese Menschen nicht versorgt werden. Seit einigen Monaten bieten wir ihnen eine Alternative.»
Was war die Hauptschwierigkeit dabei, das Projekt auf die Beine zu stellen?
Dr. Miriam Hernández: «Die grösste Herausforderung ist, dass Migrant:innen von Haus aus gezwungen sind, informelle Wege zu gehen, und sich deshalb ausserhalb der Reichweite von Hilfsorganisationen bewegen. Aus diesem Grund sind sie für uns nur schwer zu erreichen. Wir arbeiten daran, diese Zielgruppe darüber aufzuklären, was wir machen und wieso wir hier sind.
Besonders betonen wir dabei unsere Grundsätze: Dass wir neutral, unparteiisch und unabhängig sind und unser alleiniges Interesse darin besteht, Leben zu retten und Leid zu lindern.
Nach und nach haben wir uns so einen Platz errungen, ohne im Wettbewerb mit der lokalen Gemeinschaft zu stehen. Auch darauf legen wir viel Wert bei unserer Aufklärungsarbeit. Man hat uns akzeptiert, weil erkannt wurde, dass wir niemandem die Arbeit wegnehmen. Dank dieser Akzeptanz und unserer durchgehenden Präsenz an den drei Standorten können wir diesen Menschen lebenswichtige Leistungen erbringen.
Wie kann man Menschen, die nur auf der Durchreise sind, effektiv medizinisch versorgen?
Dr. Miriam Hernández: «Die Menschen hier passieren die Stadt mit einem verblüffenden Tempo. Wir haben nur ganz wenig Zeit, um uns ein Bild von ihrem Gesundheitszustand zu machen. Doch manche Dinge brauchen alle, wie Trinkwasser. Wenn wir Hydratations-Sets oder Landkarten mit den Migrationswegen verteilen, haben wir einige Minuten, um unsere Arbeit vorzustellen.
Es ist auch zu bedenken, dass viele dieser Menschen beängstigt an einen ihnen unbekannten Ort kommen. Manche stehen noch unter dem Schock eines Angriffs. Indem wir sie mit sauberem Wasser versorgen und ihnen ganz uneigennützig Informationen an die Hand geben, darunter auch Notrufnummern und Auskünfte über weitere Anlaufstellen von Ärzte ohne Grenzen auf ihrem Weg, gewinnen wir ihr Vertrauen. So willigen sie schliesslich auch einer ärztlichen Visite ein, in der abgeklärt wird, ob sie noch weitere medizinische Massnahmen benötigen.
In welcher Weise unterscheidet sich dieses Projekt von anderen, an denen Sie mitgearbeitet haben?
Dr. Miriam Hernández: «Da sind zuallererst die besonderen Herausforderungen zu nennen, mit denen deportierte Menschen konfrontiert sind. Nach Mexiko abgeschoben zu werden, ist nicht dasselbe, wie nach Guatemala abgeschoben zu werden. Viele, die nach Guatemala ausgeschafft werden, können nicht nach Hause zurück. Wenn sie Ausländer sind, können sie in Tecún Umán Asyl beantragen, ansonsten bleibt ihnen keine Wahl, als einen weiteren Versuch zu unternehmen, um in den Norden zu gelangen. Wer hier festsitzt, steckt in einer äusserst prekären Lage. Manche guatemaltekischen Abgeschobenen haben bei ihrer Ankunft nicht einmal das Geld für einen Anruf, nach wenigen Tagen leben sie auf der Strasse.
Kompliziert ist es auch für jene ohne Ausweispapiere. Sogar wenn sie die guatemaltekische Staatsbürgerschaft besitzen, sind sie ohne ihre Identitätskarte aufgeschmissen: Sie können sich nicht impfen lassen, keine ärztliche Konsultation beantragen, kein Geld abholen, das ihnen Verwandte zusenden könnten usw. Sie wurden nicht nur in das Land zurückgebracht, aus dem sie versucht haben zu fliehen, sondern stehen hier auch vor einem Abgrund ohne Ausweg.»
© MSF/Esteban Montaño