Wir brauchen Taten, Worte reichen schon lange nicht mehr aus

Marie von Manteuffel, unsere Expertin für Flucht und Migration

Griechenland4 Min.

Seit dreieinhalb Jahren arbeite ich bei Ärzte ohne Grenzen als politische Referentin für Flucht und Migration. Die Organisation unterhält unzählige Projekte weltweit, in denen Menschen auf der Flucht medizinische Versorgung erhalten. Meine Kolleg*innen begegnen ihnen und erleben sie täglich auf der ganzen Welt: Die Geschichten von Menschen auf der Flucht.

Politiker*innen, hört zu!


Über genau diese Geschichten müssten wir dringend sprechen - insbesondere mit den politischen Entscheidungsträger*innen: Wir müssen sie daran erinnern, dass sie sich einsetzen und die humanitären Zustände in den riesigen Camps für Geflüchtete verbessern wollten, in Bangladesch, in Jordanien, Libanon und Irak, in Äthiopien, Südsudan oder der Demokratischen Republik Kongo, in Niger, Chad und Nigeria, in ganz Lateinamerika. 

Europa wendet sich ab

Aber dazu kommt es kaum - schlicht deshalb, weil der politische Fokus von Regierungen in Europa in Sachen Flucht und Migration seit Jahren auf Abschottung und Externalisierung liegt. Direkte Folge: Die Verelendung genau der Menschen, die unseres Schutzes in besonderem Masse bedürfen. Das alles geschieht auf europäischem Boden und entlang der EU-Aussengrenzen! 

Seit Jahren prangern meine Kolleg*innen und ich die Situation von Geflüchteten auf den griechischen Inseln an. Die Camps auf Lesbos und Samos habe ich selbst besucht und konnte mit eigenen Augen sehen:

Die europäische Gemeinschaft behandelt schutzsuchende Frauen, Männer und Kinder an ihren Aussengrenzen schlecht.

Marie von Manteuffel, unsere Expertin für Flucht und Migration

Insbesondere die Lage allein reisender Frauen, LGBTQI*-Personen und Überlebender von Folter und sexualisierter Gewalt macht mich fassungslos.

Weder Privatsphäre noch warmes Wasser – häufig leben zwei oder drei Familien gemeinsam in einem Zelt. Sie haben keinen Zugang zu Strom oder anderen Dienstleistungen der Grundversorgung.

Weder Privatsphäre noch warmes Wasser – häufig leben zwei oder drei Familien gemeinsam in einem Zelt. Die Menschen in den Camps haben keinen Zugang zu Strom oder anderen Dienstleistungen der Grundversorgung. Moria/Lesbos – 04.02.2019

© Malte Mühle/MSF

Die Lage auf den griechischen Inseln – sexualisierte Gewalt ist allgegenwärtig

Ein öffentliches Engagement für Überlebende von sexualisierter Gewalt ist wichtig und begrüssenswert. Auch wir als Organisation setzen uns kontinuierlich für eine vollumfassende Versorgung von Überlebenden weltweit ein. Nur passt dieser öffentliche Einsatz so gar nicht zu dem, was sich an den europäischen Aussengrenzen abspielt.


Seit 2019 haben unsere Kolleg*innen auf Samos, Lesbos und Chios insgesamt 325 Überlebende von sexualisierter Gewalt behandelt. Darunter waren allein reisende Frauen, LGBTQI*-Personen, unbegleitete Minderjährige sowie Menschen mit Behinderungen. Diese Zahl bildet dabei wahrscheinlich nur die Spitze des Eisberges ab.


Die Überlebenden berichten, dass sie entweder auf den Fluchtrouten, in ihren Heimatländern, aber auch oftmals in den Hotspot-Camps auf europäischem Boden diese Gewalterfahrungen durchlebt haben. Teilweise sogar mehr als einmal. 

Unzureichende Schutzmassnahmen  

Welche Unterstützung bekommen die Überlebenden auf den griechischen Inseln und welche Schutzmassnahmen gibt es? Wie werden Traumata und Vulnerabilitäten in den Asylverfahren berücksichtigt?


Die Antworten sind unbefriedigend: Sicherheits- und Schutzmassnahmen sind in Camps wie Vathy auf Samos kaum vorhanden. Insbesondere Toiletten und Duschen bergen aufgrund der weiten Entfernung und der schlechten Beleuchtung Risiken.


Das hat fatale Folgen: Alleinreisende Frauen trinken nachmittags nichts mehr, um nachts nicht die Toilette aufsuchen zu müssen. Die wenigen Überlebenden, die sich trauen, Vorfälle bei den lokalen Behörden anzuzeigen, erfahren nur wenig Unterstützung. Stattdessen werden sie an genau die gleichen unsicheren Orte zurückgeschickt, an denen sich die Übergriffe ereignet haben. Diese Reaktion der Sicherheitsbehörden führt oftmals sogar zur Retraumatisierung.

Schlaflose Nächte während der Sintflut – nach einem heftigen Unwetter mussten Tausende von Menschen in der Nähe des Camps Moria weiterhin in ihren kaputten Zelten ausharren.

Schlaflose Nächte während der Sintflut – nach einem heftigen Unwetter mussten Tausende von Menschen in der Nähe des Camps Moria weiterhin in ihren kaputten Zelten ausharren. Moria/Lesbos – 29.11.2018

© MSF/Anna Pantelia

Manche Ohren bleiben taub

Unsere Teams sind in vielerlei Hinsicht machtlos. Wir können nur ambulant behandeln und wissen, dass am Ende einer Therapiesitzung die Person zurück ins Camp muss.

Wieder und wieder bitten wir die örtlichen Behörden: Ergreift Schutzmassnahmen, bringt Überlebende in sichere Unterkünfte auf das griechische Festland, in denen sie auch bleiben können.

Aber die sicheren und angemessenen Unterkünfte für vulnerable Gruppen waren schon immer knapp. Die zivilgesellschaftlich organisierten Unterkünfte wie zum Beispiel das PIKBA-Camp auf Lesbos wurden genauso geschlossen wie die grösseren UN-Programme, das frühere Camp Kara Tepe oder das ESTIA-Schutzprogramm.

Wegschauen statt Lösungen suchen

Nach den Plänen der EU-Kommission sollen zukünftig schutzsuchenden Menschen in quasi geschlossene Camps gesperrt werden. Hauptmerkmal: Weit weg von der lokalen Bevölkerung. Asylverfahren sollen beschleunigt werden, ohne allerdings Rechtsbeistand zu gewährleisten. Die unmittelbare Folge: Unsere Patient*innen werden reihenweise durch die Lücken im System fallen.

Sie sind traumatisiert und ohne Rechtsbeistand schlichtweg chancenlos, um in dem behördlichen Wirrwarr zurechtzukommen. Das alles in Camps, zu denen Nichtregierungsorganisationen zukünftig noch weniger Zugang haben werden. Somit wird wahrscheinlich auch der letzte Beistand verhindert. 

Die Situation auf den griechischen Inseln ist gerade auch für Kinder und Jugendliche unerträglich. Ihre psychische Belastung ist so hoch, dass viele Selbstmordgedanken haben oder gar versuchen, sich das Leben zu nehmen.

Die Situation auf den griechischen Inseln ist gerade auch für Kinder und Jugendliche unerträglich. Ihre psychische Belastung ist so hoch, dass viele Selbstmordgedanken haben oder gar versuchen, sich das Leben zu nehmen. Lesbos – 02.07.2020

© Enri Canaj / Magnum Photos for MSF

Werdet Eurer Verantwortung endlich gerecht!

Man könnte meinen, dass ein Land wie die Schweiz, das sich öffentlich stark für die Rechte von Überlebenden von sexualisierter Gewalt einsetzt, diese insbesondere auf europäischem Boden schützen möchte. Das Bild, welches sich entlang der EU-Aussengrenzen abzeichnet, ist aber ein völlig anderes und lässt die Reden von Schutz und Sicherheit hohl klingen. 

Resolutionen, öffentliche Reden und Interviews bringen alle nichts, wenn die geforderten Ziele nicht umgesetzt werden. Die Schweiz sollte es sich daher zur Aufgabe machen, ihre Verantwortung für Überlebende von sexualisierter Gewalt an den europäischen Aussengrenzen anzuerkennen und diese gezielt zu unterstützen.  

An Taten messen!

Dies ist nur durch ein Umdenken in der Migrationspolitik möglich, die insbesondere vulnerable Gruppen ins Zentrum rückt. Vor diesem Hintergrund fordern wir die Schweiz auf, die Einhaltung der rechtlichen Mindeststandards zu gewährleisten und sich bei der griechischen Regierung für eine schnelle und umfassende Verbesserung der Standards einzusetzen! 

Konkret fordern wir: Medizinische und psychosoziale Versorgung, humanitäre Mindeststandards bei der Unterbringung, Zugang zu ausreichend sauberem Trinkwasser, funktionsfähige Latrinen und Duschen sowie wirksamen Schutz für Überlebende von Folter oder sexualisierter Gewalt. 

Wir messen die Schweiz daran, wie sie Menschen tatsächlich behandelt und nicht nur daran, was sie öffentlich fordert – wir brauchen Taten, Worte reichen schon lange nicht mehr aus.