Zentralafrikanische Republik: «Es sind nur diejenigen geblieben, die nicht weglaufen konnten»
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Anhaltende Kämpfe haben fast die gesamte Bevölkerung der Stadt Zemio im Südosten der Zentralafrikanischen Republik in die Flucht getrieben. Von ehemals 21’000 Bewohnern sind weniger als 2’000 geblieben.
Bewaffnete Gruppen kämpfen seit Wochen um die Kontrolle über die Stadt. Auch das dortige Spital wurde dabei angegriffen und geplündert. Im Juli wurde in der Klinik ein Baby in den Armen seiner Mutter erschossen, im August eröffneten Bewaffnete das Feuer auf 7’000 Menschen, die auf dem Gelände Zuflucht vor den Kämpfen gesucht hatten. Das Krankenhaus musste geschlossen werden. Unser medizinischer Koordinator Wil van Roekel schildert die Folgen der Gewalt, von der auch etwa 1’600 HIV-Patienten betroffen sind, die täglich Medikamente einnehmen müssen, um zu überleben.
Wie ist die Situation in Zemio?
Zemio ist seit Wochen eine Geisterstadt. Fast alle Bewohner sind weg, weil sie Angst haben, dass es weitere Angriffe geben wird. Wenn man durch die Stadt fährt, sieht man ausgebrannte Häuser und geplünderte Geschäfte. Die Menschen wurden von den Angriffen überrascht. Als die bewaffneten Gruppen kamen, rannten sie in alle Richtungen davon. Die Töpfe blieben auf dem Herd stehen, und überall lag Kleidung herum. Familien wurden auseinandergerissen, und einige haben den Kontakt zu den ihnen nahestehenden Menschen verloren.
Die Gefahr, auf der Strasse beschossen zu werden, war so gross, dass manche auf der Suche nach ihren Verwandten von Baum zu Baum kletterten. Einer unserer lokalen Mitarbeiter musste tagelang in der Klinik ausharren, bevor er sich auf den Weg in das nur vier Kilometer entfernte Lager für Vertriebene machen konnte, wo seine Familie Zuflucht gefunden hat.
Was bedeutet die Gewalt für die Arbeit von MSF?
Nachdem am 11. Juli in der Klinik von Zemio ein Baby in den Armen seiner Mutter erschossen worden war, wurden fast alle unsere Mitarbeitenden aus der Stadt gebracht. Unsere lokalen Mitarbeitenden – Männer und Frauen aus Zemio – haben zunächst weitergearbeitet. Am 18. August wurde das Klinikgelände dann erneut von bewaffneten Männern angegriffen. Sie eröffneten das Feuer auf die 7’000 vertriebenen Menschen, die dort Zuflucht gefunden hatten. Dabei wurden elf Menschen getötet. Danach ist fast die gesamte Bevölkerung aus Zemio geflohen, einschliesslich unseres Personals.
Etwa 10’000 Menschen sind in die Wälder rund um die Stadt oder in benachbarte Orte geflohen. Weitere 9’000 Menschen sind über die Grenze in die Demokratische Republik Kongo gegangen und leben dort in einem Behelfslager. Das Camp ist in einer abgelegenen Gegend – von dort aus läuft man zwei Tage ins nächstgelegene Dorf. Schwangere müssen ihre Kinder im Wald zur Welt bringen. Es gibt kaum Unterkünfte und nur ein paar Moskitonetze, wodurch das Risiko, an Malaria zu erkranken, steigt. Es gibt kein sauberes Trinkwasser, keine Sanitäranlagen und unsere lokalen Mitarbeiter berichten von mehr und mehr Fällen von Durchfallerkrankungen.
In den vergangenen vier Wochen konnten wir Zemio ein paar Mal kurz besuchen. Wir haben sieben Patienten mit dem Flugzeug ausgeflogen. Sie waren unsere schwersten Fälle. Die meisten hatten Schusswunden. Auch der Sohn eines unserer zentralafrikanischen Mitarbeiter war darunter. Er wurde in der Hauptstadt Bangui operiert und konnte sich wieder erholen.
Was bedeutet die Situation für die HIV-Patienten?
Unser HIV-Programm war gemeindebasiert. Die Patienten waren in Gruppen aufgeteilt. Jeweils eine Person aus der Gruppe kam zur Klinik und holte die antiretroviralen Medikamente für die nächsten drei Monate für alle ab. Die Gruppenvertreter reisten aus bis zu 250 Kilometern Entfernung an. Rund 1’600 Patienten und Patientinnen wurden so versorgt.
Nach dem ersten Angriff versuchten unsere Mitarbeitenden, das Programm fortzuführen. Doch es waren bewaffnete Männer in unmittelbarer Nähe des Spitals, und es wurde für unsere Patienten zu gefährlich, zu unserer Klinik zu gelangen. Kurz nach dem ersten Angriff wurde unser Lager mit Medikamentenvorräten für sechs Monate ausgeraubt. Einige Patienten erzählten uns, dass auch ihre Vorräte zuhause verbrannt seien. Seit den letzten Angriffen konnten wir die Patienten nicht mehr erreichen. Wir mussten das Programm einstellen.
Ohne grundlegende medizinische Hilfe wird sich der Zustand unsere Patienten verschlechtern. Ohne antiretrovirale Medikamente sind sie einem hohen Risiko ausgesetzt, sich mit Infektionen wie Tuberkulose anzustecken. Bei ihnen können sich dann wiederum Menschen anstecken, die selbst gar nicht mit dem HI-Virus infiziert sind. Infektionskrankheiten werden also zunehmen. Die HIV-Patienten müssten ihre Behandlung so schnell wie möglich wiederaufnehmen. Das ist aber zurzeit leider völlig unrealistisch.
Kann MSF in Zemio weiterarbeiten?
Wir sind es gewohnt, in Konfliktgebieten unter schwierigen Bedingungen zu arbeiten, doch in Zemio liegen die Möglichkeiten für die humanitäre Hilfe derzeit praktisch bei null. Von ehemals 21’000 Einwohnern, sind weniger als 2’000 übrig. Nur diejenigen, die nicht weglaufen konnten – ältere Menschen und Menschen mit Behinderung – sind noch da. Auch die Bevölkerung im muslimischen Viertel konnte nicht fliehen, weil sie von kämpfenden Gruppen umgeben ist.
In Zemio sind viele Menschen in Gefahr, viele sind verwundet und alle kämpfen ums Überleben; doch wir können nicht zu ihnen gelangen und sie nicht versorgen – die bewaffneten Gruppen haben jeglichen Respekt für humanitäre Helfer verloren.
Das Spital in Zemio ist heute menschenleer, weil sich dort niemand mehr sicher fühlt. Dennoch machen die Mitarbeitenden von MSF weiter – sie gehen in die Wälder, die Rucksäcke voller Medikamente, und versorgen die Menschen, die sich dort verstecken. Wir planen zudem jenseits der Grenze, in der Demokratischen Republik Kongo, medizinische Hilfe anzubieten. Die Menschen dürfen nicht allein gelassen werden.
Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) unterstützt das Spital in Zemio seit 2010, zuletzt haben wir vor allem HIV-positive Patienten betreut und medizinische Hilfe in der Umgebung angeboten, so auch in zwei Gesundheitszentren und einem Malaria-Zentrum. MSF bietet kostenlose medizinische Hilfe an etlichen Orten in der Zentralafrikanischen Republik.