«In einem Punkt stimmen wir der EU bei: Wir müssen aus dieser Sackgasse herauskommen»
© Enri CANAJ/Magnum
Griechenland2 Min.
Mitarbeitende von Hilfsorganisationen, Medienschaffende und Beobachtende werden zurzeit Zeuge einer Solidaritätskrise. Sie ist das Ergebnis einer Politik, die das Recht auf Asyl gezielt behindert und die menschliche Würde nicht respektiert.
Die Brände, die in den Geflüchtetenlagern auf den Inseln Lesbos und Samos gewütet haben, führen uns auf furchtbare Weise die Folgen einer europäischen Politik vor Augen, die auf menschlicher und logistischer Ebene versagt hat. Unfähig, Schlussfolgerungen aus der Vergangenheit zu ziehen, wird die Abschottungspolitik der Europäischen Union fortgeführt und Migrantinnen und Migranten werden weiter kriminalisiert.
Paradies und Hölle stehen sich gegenüber
Die medizinischen Teams von Ärzte ohne Grenzen leisten Hilfe in Flüchtlingslagern auf der ganzen Welt. Wir können zweifellos bezeugen, dass die Lebensbedingungen in den Lagern auf den griechischen Inseln weltweit zu den schlimmsten gehörten. Das touristische Paradies steht auf Lesbos der Hölle von Moria gegenüber.
Im Jahr 2016 institutionalisierte das berüchtigte Abkommen zwischen der EU und der Türkei die Abschiebung von Geflüchteten zurück in die Türkei. Gleichzeitig wurden die menschenunwürdigen Lebensbedingungen in den «Hotspots» der griechischen Inseln wie Samos und Lesbos bewusst aufrechterhalten, um Menschen davon abzuhalten, in Europa Zuflucht zu suchen.
Heute stimmen wir der EU in einem Punkt bei: Diese Situation muss beendet werden. Der neue europäische Migrationspakt, der am 23. September 2020 vorgestellt wurde, wäre eine Gelegenheit für einen radikalen Kurswechsel gewesen. Jedoch sollen auch in Zukunft Schutzsuchende an den Aussengrenzen festgehalten werden, ohne dass wir wissen, ob die Mindeststandards bei der Unterbringung, der Versorgung und beim Schutz dieser Menschen eingehalten werden.
Wie könnte eine neue Migrationspolitik aussehen?
Ein radikaler Kurswechsel hätte zunächst einen globalen Solidaritätspakt erfordert, der über die Grenzen Europas hinausgeht und sowohl Ziel- als auch Transit- und Herkunftsländer umfasst. Konkret würde das bedeuten, die Abschreckungspolitik durch die Entwicklung sicherer und legaler Verfahren für Asylanträge zu ersetzen.
Weiter sollte ein System eingeführt werden, dass Asylsuchende bis zur Anerkennung ihres Status empfängt statt inhaftiert. Das würde heissen, Menschen auf der Flucht in erster Linie als Menschen zu sehen, während sie heute eher als Täter oder Kriminelle dargestellt werden.
Schliesslich bedarf es verstärkter Aufmerksamkeit für die Integration. Die wirtschaftliche und soziale Unterstützung von Migrantinnen und Migranten sollte dabei unabhängig ihres Status Vorrang haben – Damit Menschen, die zwischen einer zerstörten Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft gefangen sind, ein Minimum an Perspektiven geboten werden kann.
Bis dies auf europäischer Ebene und darüber hinaus realisiert ist, werden wir aber wohl weiterhin ungläubig zusehen, wie die Aylans an den Stränden angespült, die Oscars und Valérias in den Fluten ertrinken und die Morias in Flammen aufgehen werden.
Christine Jamet, Leiterin der Einsätze bei Ärzte ohne Grenzen Schweiz
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