Nigeria: Rekordzahlen bei schwer mangelernährten Kindern im Norden des Landes

Aissa und ihr einjähriger Sohn Abdou im therapeutischen Ernährungszentrum von Fori. Bundesstaat Borno, Nordosten von Nigeria, Juli 2023

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Im Norden Nigerias gab es in den letzten Wochen in unseren stationären Einrichtungen einen aussergewöhnlich starken Anstieg bei den Einweisungen von schwer mangelernährten Kindern mit lebensbedrohlichen Komplikationen. An einigen Orten verdoppelten sich die Zahlen im Vergleich zum letzten Jahr. Besonders beunruhigend ist, dass sie schon jetzt über den Höchstständen liegen, die normalerweise im Juli erreicht werden.

Die humanitären Hilfsmassnahmen müssen dringend ausgebaut werden. Ärzte ohne Grenzen appelliert an die nigerianischen Behörden, internationale Organisationen und Geberländer und fordert sie zu unverzüglichen Massnahmen auf. Um Komplikationen und weitere Todesfälle zu verhindern, sind Diagnosen und Behandlungen nötig. Ausserdem müssen nachhaltige, langfristige Initiativen lanciert werden, um die zugrunde liegenden Ursachen dieses Problems zu reduzieren.

Wir müssen die Menschen inzwischen auf Matratzen auf dem Boden behandeln, weil unsere Einrichtungen voll sind. Kinder sterben. Wenn nicht sofort gehandelt wird, stehen weitere Menschenleben auf dem Spiel. Alle müssen jetzt mithelfen – um Leben zu retten und damit die Kinder im Norden von Nigeria ohne Mangelernährung und ihre katastrophalen, manchmal tödlichen Folgen aufwachsen können.

Dr Simba Tirima, unser Landesverantwortlicher in Nigeria.

«In den letzten beiden Jahren haben wir immer wieder vor einer Zuspitzung der Mangelernährungskrise gewarnt. 2022 und 2023 waren bereits kritisch, aber 2024 dürfte sich die Situation noch weiter verschlechtern. Wir können nicht zulassen, dass dieses Szenario sich jedes Jahr wiederholt. Was braucht es noch, damit es endlich alle zur Kenntnis nehmen und etwas dagegen tun?», fügt Dr. Tirima hinzu.

Im therapeutischen Ernährungszentrum von Sokoto, im Nordwesten von Nigeria (Mai 2023).

Im therapeutischen Ernährungszentrum von Sokoto, im Nordwesten von Nigeria (Mai 2023). Zwischen März und April 2024 verzeichnete das Zentrum bei den Einweisungen einen Anstieg von 100 %. Fünf andere medizinische Zentren, die von uns im Nordwesten des Landes unterstützt oder betrieben werden, meldeten für den gleichen Zeitraum ebenfalls eine Zunahme von 20 bis 75 %.

© Ehab Zawati/MSF

Im April 2024 nahm das medizinische Team von Ärzte ohne Grenzen in Maiduguri im Nordosten Nigerias 1250 schwer mangelernährte Kinder mit Komplikationen in das stationäre Zentrum für therapeutische Ernährung auf. Dies entspricht einer Verdoppelung gegenüber April 2023. Ähnlich ist die Situation im von uns betriebenen Spital Kafin Madaki, im Bundesstaat Bauchi: Auch hier wurden deutlich mehr schwer mangelernährte Kinder eingewiesen – im Vergleich zum selben Zeitraum des Vorjahres wurde eine Zunahme von 188 % verzeichnet.

Trotz des alarmierenden Anstiegs des Bedarfs ist die humanitäre Hilfe insgesamt nach wie vor unzureichend.

Andere gemeinnützige Organisationen, die im Norden des Landes arbeiten, sind ebenfalls überlastet.  Die Vereinten Nationen und die nigerianischen Behörden forderten im Mai 306,4 Mio. USD, um den dringenden Bedarf an Nahrungsmitteln in den Bundesstaaten Borno, Adamawa und Yobe zu decken. Doch das wird nicht ausreichen, da diese Forderung noch keine Mittel für den Norden Nigerias umfasst. Auch hier übersteigen die Bedürfnisse die Hilfskapazitäten der Organisationen. Da der Nordwesten von der offiziellen humanitären Hilfe ausgeschlossen ist, haben die Kürzungen der ohnehin begrenzten Mittel für die Region auch die Versorgung mit wichtiger therapeutischer Nahrung und zusätzlichen Nahrungsmitteln gefährdet.

«Die Kürzung der Hilfe in dieser schwierigen Zeit besorgt uns sehr. Nur noch Ernährungshilfe für schwer mangelernährte Kinder bereitzustellen, ist gleichbedeutend, wie wenn man darauf wartet, dass ein Kind schwer erkrankt, bevor man es behandelt. Wir appellieren an Geberländer und Behörden, die Unterstützung sowohl für kurative als auch für präventive Ansätze so schnell wie möglich zu erhöhen, um sicherzustellen, dass alle mangelernährten Kinder die Versorgung erhalten, die sie dringend benötigen», erklärt Dr. Tirima.

Mangelernährung ist im Norden Nigerias ein anhaltendes Problem.

Die Mangelernährungskrise in Nordnigeria ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen, darunter Inflation, Ernährungsunsicherheit, unzureichende Gesundheitsinfrastruktur, anhaltende Sicherheitsprobleme und Krankheitsausbrüche, die durch die niedrige Durchimpfungsrate noch verschlimmert werden.

Um die Mangelernährung im Norden Nigerias anzugehen, sind sowohl präventive als auch kurative Massnahmen nötig. Eine der sofort nötigen Massnahmen sind die Errichtung und der Ausbau von Gesundheitseinrichtungen und -programmen, in denen Mangelernährung wirksam diagnostiziert und behandelt werden kann. Weitere wichtige Schritte sind die Förderung von Impfprogrammen, die Verbesserung des Zugangs zu nährstoffreichen Lebensmitteln, die Verbesserung der Wasser- und Abwasserinfrastruktur und die Sensibilisierung der Öffentlichkeit.