Rettungsschiff «Aquarius» in Valencia angekommen
© Kenny Karpov/SOS MEDITERRANEE
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Nach der politischen Pattsituation über das Schicksal der im Mittelmeer geretteten Menschen verurteilt die medizinische Hilfsorganisation MSF Italiens Regierung für die Schliessung seiner Häfen. 630 gerettete Menschen konnten aus diesem Grund nicht in Italien an Land gehen und mussten eine viertägige, beschwerliche Fahrt nach Spanien auf sich nehmen. Europäische Regierungen haben sich für politische Machtspiele entschieden, anstatt Leben zu retten.
«Valencia ist das Ende einer schrecklichen Tortur für 630 Menschen. Jetzt muss seitens Europa eine ernsthafte Verpflichtung eingegangen werden, Leben zu retten und gerettete Menschen ordnungsgemäss an Land zu bringen. Die Teams an Bord der ‚Aquarius‘ werden weiterhin Such- und Rettungsaktionen im zentralen Mittelmeer durchführen», erklärt Karline Kleijer, Notfallkoordinatorin bei MSF.
«Die Männer, Frauen und Kinder an Bord der ‚Aquarius‘ sind vor Konflikten und Armut geflohen und haben schreckliche Misshandlungen in Libyen überlebt. Sie wurden wie Fracht von einem Boot zum anderen transportiert und ertrugen die schwierigen Bedingungen auf der unnötig langen Fahrt auf See», so Kleijer. «Wir sind Spanien dankbar, dass sie eingegriffen haben, obwohl italienische und andere europäische Regierungen in ihrer humanitären Verantwortung schmählich versagt haben.»
MSF fordert europäische Regierungen auf, das Leben der Menschen an erste Stelle zu setzen
Vor dem Europäischen Rat in der kommenden Woche fordert MSF die europäischen Regierungen auf, das Leben der Menschen an die erste Stelle zu setzen. Sie müssen das schnelle Ausschiffen in den nächstgelegenen sicheren Hafen in Europa erleichtern, in dem gerettete Menschen angemessen versorgt werden können. Sie müssen sicherstellen, dass Menschen, die internationalen Schutz benötigen, Asyl oder andere Formen des Schutzes beantragen können. Sie dürfen unabhängige nichtstaatliche Such- und Rettungsinitiativen nicht behindern und müssen im zentralen Mittelmeerraum einen proaktiven, gezielten Such- und Rettungsmechanismus einrichten.
Am Wochenende des 9. und 10. Juni rettete das von SOS Méditerranée in Zusammenarbeit mit MSF betriebene Such- und Rettungsschiff «Aquarius» mehr als 200 Menschen und erhielt weitere 400 Menschen von italienischen Schiffen der Marine und Küstenwache. Obwohl die Rettung und die Transfers der 630 Personen von der italienischen Seenotrettungsleitstelle (MRCC) initiiert und koordiniert wurden, verweigerten die italienischen Behörden der «Aquarius» die Genehmigung, die Menschen im nächstgelegenen sicheren Hafen Italiens an Land zu bringen. Sie haben damit mit der bisherigen Praxis und internationalem Recht gebrochen. Malta, in dem der nächstgelegene sichere Hafen lag, weigerte sich ebenfalls, die Menschen von der «Aquarius» aufzunehmen, und berief sich dabei auf die Koordinierungsrolle und Verantwortung Italiens.
«Die italienischen Behörden erschienen oft desinteressiert»
Am 11. Juni schliesslich intervenierte die spanische Regierung und bot an, die Geretteten in Valencia, 1300 Kilometer entfernt, aussteigen zu lassen. MSF drängte die italienischen Behörden weiterhin, die Ausschiffung im nächstgelegenen sicheren Hafen zu genehmigen, wie es im internationalen Seerecht vorgesehen ist. MSF äusserte auch ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Sicherheit und der humanitären Hilfe für die 630 Passagiere auf einem überfüllten Schiff für vier weitere Tage ohne angemessene Unterkünfte oder ausreichende Verpflegung.
«Die italienischen Behörden erschienen oft desinteressiert. Zuerst schlugen sie vor, dass MSF verletzliche Personen transferieren könne. Als die Organisation jedoch eine Liste von fast 200 Personen, darunter unbegleitete Minderjährige, Kranke und Verletzte, Schwangere sowie Frauen mit allein reisenden Kindern, vorlegte, lehnten sie dies ab. Die italienischen Behörden beantragten dann, dass wir nur die sieben schwangeren Frauen transferieren. Sie reagierten aber nicht auf die Bedenken von MSF, Familien zu trennen sowie Ehemänner von ihren schwangeren Frauen», sagt Kleijer.
Sorge über humanitäre und medizinische Folgen wurde ignoriert
Trotz der Sorge von MSF vor den humanitären und medizinischen Folgen der Seefahrt nach Valencia, wiesen die italienischen Behörden die «Aquarius» am 12. Juni an, 524 Menschen auf italienische Schiffe zu übergeben und mit den verbliebenen 106 Geretteten auf eine viertägige Fahrt nach Spanien aufzubrechen. «Die italienischen Behörden haben schändlicherweise für 630 gerettete Menschen ihre Häfen geschlossen und für ihre politischen Machtspiele im Mittelmeer herumgeschickt», so Kleijer. «Selbst wenn Italien berechtigte Beschwerden darüber hat, dass andere europäische Regierungen ihren Anteil an Flüchtlingen nicht aufnehmen, ist dies keine Rechtfertigung für diese erniedrigende Behandlung.»
Die Ereignisse dieser Woche im zentralen Mittelmeer unterstreichen die politische Dynamik in Europa. Die europäischen Regierungen sehen die Rettung gefährdeter Migranten und Flüchtlinge auf hoher See nicht als Priorität. Stattdessen haben sie ihre Grenzen dichtgemacht. Sie haben die libysche Küstenwache aktiv unterstützt, in internationalen Gewässern gerettete Menschen nach Libyen zurückzubringen, wo sie weiterhin misshandelt werden. In ganz Europa haben die Regierungen die Erstankunftsländer, wie Italien und Griechenland, in denen die grosse Mehrheit der Asylsuchenden und Migranten ankommen, nicht ausreichend unterstützt.
«Die europäischen Regierungen müssen die Bedeutung der Seenotrettung anerkennen»
«Die europäischen Regierungen müssen die Bedeutung der Seenotrettung anerkennen. Mehr als 500 Menschen sind im Jahr 2018 bei der gefährlichen Reise auf seeuntüchtigen Schlauchbooten über das zentrale Mittelmeer ertrunken. Berichten zufolge starben in dieser Woche zwölf Menschen bei einem Vorfall, bei dem ein amerikanisches Marineschiff 40 Überlebende rettete, nachdem ihr Schlauchboot gekentert war», berichtet Kleijer. «Die Hetzkampagne gegen NGO-Schiffe muss aufhören. Unsere einzige Absicht ist es, Leben auf See zu retten. Es ist schwer zu erklären, warum die ‚Aquarius‘ die 630 geretteten Menschen nicht an Land bringen konnte und eine viertägige Reise nach Spanien antreten musste, während einen Tag später das italienische Schiff der Küstenwache Dicotti 900 Menschen in Italien an Land bringen durfte.»
Die «Aquarius» ist eines der wenigen noch verbliebenen unabhängigen, nichtstaatlichen Such- und Rettungsschiffe im zentralen Mittelmeer. Aber das bedeutet nicht, dass auch der Bedarf auch verschwunden ist. Bis am 8. Juni hatte die «Aquarius» im laufenden Jahr bereits 2350 Menschen gerettet und/oder überstellt, die ansonsten ertrunken wären. Aufgrund der bürokratischen Hürden und Gerichtsverfahren gegen Mitarbeitende, die für nichtstaatliche Such- und Rettungsinitiativen arbeiten, sind die Kapazitäten für eine unabhängige Such- und Rettungshilfe im vergangenen Jahr zurückgegangen.
© Kenny Karpov/SOS MEDITERRANEE