Kein Ende in Sicht: Das Trauma der Vertriebenen in Gaza wiederholt sich
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Palästinensische Autonomiegebiete6 Min.
Seit dem Kriegsausbruch in Gaza wurden mindestens 38 000 Palästinenser:innen getötet, davon mehr als die Hälfte Frauen und Kinder. 87 000 weitere wurden verletzt. Die Überlebenden dieses unablässigen Beschusses und der Bombardierungen müssen ständig von einem Ort zum nächsten fliehen. Doch Zeugenberichte von Mitarbeitenden und Patient:innen von Ärzte ohne Grenzen aus den letzten neun Monaten verdeutlichen, dass es nirgends in Gaza einen sicheren Ort gibt.
Während unsere Teams im ganzen Gazastreifen den Verletzten dringend benötigte und lebensrettende medizinische Versorgung bieten, müssen auch sie um ihre Leben fürchten und fliehen.
Kamil*, Pflegefachmann in der Notaufnahme und der Wachmann Haider* arbeiten für Ärzte ohne Grenzen. Sie waren Teil des Teams, das im Oktober und November 2023 die schwerverletzten Überlebenden der Bombardierungen im Al-Shifa-Spital betreuten. Die beiden wurden bis heute 18 Mal vertrieben.
«Als der Krieg ausbrach, blieben wir noch vier Tage zu Hause», erzählt Kamil. «Meine Kinder wachten ständig auf und riefen nach mir. Ich hielt sie in den Armen und versuchte, sie zu beruhigen und abzulenken. Ich erzählte ihnen, es seien Feuerwerke, keine Bomben. Das war sehr, sehr schwierig.»
Am fünften Tag des Kriegs wurde das Dachgeschoss von Kamils Haus von einer Drohnenrakete getroffen. Er und seine Kinder fanden, gemeinsam mit anderen Mitarbeitenden, im Büro von Ärzte ohne Grenzen Zuflucht. Auch Haider war unter ihnen. Seine Frau und Kinder blieben zu Hause, in einem sichereren Gebiet im Norden von Gaza.
Kamil, Haider und die anderen Mitarbeitenden von Ärzte ohne Grenzen arbeiteten weiterhin täglich in unserer Klinik für Verbrennungen und im Al-Shifa-Spital, das zum Bersten voll mit Patient:innen mit schweren Verbrennungen und Schrapnellwunden war.
Die Patient:innen, die ich während dieses Krieges gesehen habe, sind anders als jene aus vorherigen Kriegen. Die meisten haben tiefe Brandwunden mit Granatsplittern. Viele haben Gliedmassen verloren oder kommen mit entzündeten Wunden zu uns. Diesen Geruch nach Entzündung werde ich nie vergessen.
«Jeden Tag kamen 30 bis 40 Menschen zu uns in die Klinik, und gleichzeitig behandelten wir Dutzende weitere im Al-Shifa-Spital», sagt Haider. «40 Tage lang machten wir das, dann wurde es zu gefährlich. Die israelische Armee näherte sich dem Al-Shifa-Spital, näherte sich uns.»
Anfangs November hatten bereits 75 Menschen, Mitarbeitende von Ärzte ohne Grenzen und ihre Familien, Zuflucht in der Klinik und dem Gästehaus gefunden. Derweil wüteten draussen die Kämpfe. «Die Situation war richtig schlimm, wir hatten alle Angst», so Haider. «Sobald wir die Türe öffneten, waren da Feuer und Schüsse. Sie erschossen die Menschen auf der Strasse.»
In den nächsten Wochen verschlechterten sich die Lebensbedingungen des Teams drastisch. «Wir hatten in diesen Wochen nicht genug Wasser zum Trinken oder um uns zu waschen», berichtet Haider. «Wir hatten nicht genug zu essen. Zwei Wochen später hatten wir gar kein Wasser mehr.»
Mitte November war die Lage für unser Team in Gaza-Stadt aufgrund der Kämpfe und Bombardierungen rund um das Al-Shifa-Spital, die Klinik und das Gästehaus unhaltbar geworden. Man entschied, zu evakuieren.
Mit der Erlaubnis der israelischen Behörden brach am 18. November ein Konvoi in den Süden von Gaza auf. Bei einem israelischen Checkpoint auf der Strasse Richtung Süden wurde ihnen jedoch der Weg versperrt. Der Konvoi war gezwungen, umzudrehen.
In einem der Autos sassen Kamil und der Pflegefachmann Alaa Al-Shawaa, beide mit ihren Familien. Auf dem Rückweg, etwa 500 Meter von der Klinik entfernt, sahen sie zwei israelische Panzer vor dem Al-Shifa-Spital sowie Scharfschützen auf den Dächern der umliegenden Gebäude.
Die israelischen Streitkräfte feuerten Schüsse auf das Auto ab. Dabei wurde Alaa am Kopf getroffen. «Die Kugeln kamen meiner Stirn sehr nah, und dann traf eine Alaas Kopf», erzählt Kamil.
«Er sackte zusammen, mit dem Kopf in Richtung Lenkrad, direkt neben meinen Armen. Ich hatte Mühe, weiterzufahren», erinnert er sich. «Das Auto war voller Blut. Ich gab mein Bestes, um nach rechts in Richtung des Büros von Ärzte ohne Grenzen abzubiegen und den ersten drei Autos zu folgen. Sie konnten abbiegen, bevor die ersten Schüsse fielen.»
Kamil und dem Rest des Konvois gelang es, den Schüssen zu entkommen und sich in unsere Klinik zu retten, wo sie fürs Erste sicher waren. Kaum hatten sie parkiert, trugen sie Alaa vom Beifahrersitz in die Klinik. Doch sie schafften es nicht, ihn wiederzubeleben.
Als ich sah, dass er tot war, verfiel ich in eine Schockstarre. Ich hatte keine Kontrolle mehr über mich, mein Kopf war wie leergefegt und ich brach am Strassenrand zusammen.
In den nächsten Tagen verschanzten sich unser Team und ihre Familien in der Klinik und dem Gästehaus. In dieser Zeit tauchten israelische Streitkräfte mit einem Panzer vor der Klinik auf, schoben damit die Autos des Konvois zusammen und verbrannten sie.
Nach weiteren schrecklichen Tagen voller Schiessereien rund um die Klinik und das Gästehaus trat am 24. November ein vorübergehender Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas in Kraft. Die israelischen Streitkräfte zogen sich aus dem Gebiet zurück, und erneut wurde mit den israelischen Behörden ein koordinierter Konvoi organisiert, damit sich unsere Teammitglieder mit ihren Familien in den Süden begeben konnten. Dieses Mal schafften sie es.
Im Süden von Gaza fanden sie Zuflucht in der Lotus-Unterkunft von Ärzte ohne Grenzen in der Stadt Khan Younis und setzten ihre Arbeit dort fort. Jeden Tag reiste Kamil in das European Gaza Hospital, wo er für die unzähligen Verletzten Notfallversorgung leistete. Haider fuhr medizinische Teams ins indonesische Spital und kümmerte sich um ihre Sicherheit.
Eine Woche darauf erhielt er schreckliche Neuigkeiten.
«In diesem Moment begann ein anderes Leiden», erzählt Haider. «Ich erfuhr, dass meine Schwester und ihre Kinder in Gaza-Stadt getötet worden waren. Ich verfiel in eine Depression. Dann starben auch eine meiner Nichten und ihre Kinder. Im Süden wurden mein Neffe, seine Frau und Kinder von einem Bulldozer getötet, der in ihr Haus fuhr. In dieser Woche verlor ich 20 Familienmitglieder. Meine Grossmutter war so überwältigt von der Trauer, dass sie kurz darauf selbst verstarb. Es ging mir sehr schlecht, aber ich versuchte, weiterzuarbeiten.»
Genug ist genug. Genug getötet, genug bombardiert, genug geschossen. Ein Haus kann man wieder aufbauen. Alles kann man wieder aufbauen. Was man aber nicht kann, ist die Menschen zurückholen, die von uns gegangen sind. Sie werden nie zurückkommen.
Am 8. Januar, etwa zwei Monate, nachdem Kamil und Haider im Süden von Gaza angekommen waren, traf eine israelische Panzergranate die Lotus-Unterkunft und tötete die fünfjährige Tochter eines Teammitglieds. Drei weitere Menschen wurden verletzt. Nach dem Angriff wurden mehr als 125 Mitarbeitende und ihre Familien in die ACAS University in Rafah gebracht, die einen Kilometer von der ägyptischen Grenze entfernt liegt. Dort harrten sie die nächsten zwei Monate aus.
Seit der Invasion von Rafah sind Kamil und Haider, wie tausende andere Palästinenser:innen, aufgrund der unaufhörlichen Bombardierungen und Angriffe auf den Süden und das Zentrum des Gazastreifens praktisch pausenlos auf der Flucht.
Wir lebten in ständiger Angst, doch wir hatten keine andere Wahl. Es gab Bombardierungen und Schiessereien. Einmal bombardierten sie das Gebäude neben uns, und die Universität wurde von Splittern getroffen. Eine Weile konnten wir so leben. Doch dann kündigten sie die Invasion von Rafah an.
Kamil kann nur erahnen, wie sehr diese Ereignisse seine Kinder traumatisieren. «Gestern spielten sie mit meinen Neffen und ich hörte, wie sie von Alaa erzählten, immer und immer wieder. Das beschäftigt sie bis heute.»
Laut den Vereinten Nationen wurden 90 Prozent der Bewohner:innen des Gazastreifens seit Kriegsbeginn mindestens einmal vertrieben. Die meisten leben unter katastrophalen Bedingungen. Haiders grösster Wunsch ist es, mit seiner Familie in Gaza-Stadt wiedervereinigt zu werden, und dass das Blutvergiessen ein Ende nimmt.
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