Kenia: Ausgeschlossen und vergessen – wie Flüchtlinge in Dadaab für ihre Würde kämpfen
© Paul Odongo/MSF
Kenia8 Min.
Weil die Hoffnung auf dauerhafte Lösungen im nach wie vor unsicheren Somalia schwindet und immer weniger Plätze im Umsiedlungsprogramm bereitgestellt werden, sitzen die Flüchtlinge in den Dadaab-Lagern fest. Ihre Bewegungsfreiheit und ihre Möglichkeiten, Geld zu verdienen, sind stark eingeschränkt, weshalb die humanitäre Hilfe für sie überlebenswichtig ist.
Wegen schrumpfender Gelder der Geberländer wurden die Hilfsleistungen zudem kontinuierlich abgebaut. Von diesem absoluten Minimum an Unterstützung leben zu müssen, bedeutet für viele ein nunmehr seit fast drei Jahrzehnten andauerndes Leben an der Schwelle zur Not.
Janai Issack war zehn Jahre alt, als sie mit ihrer Familie 1991 vor der Gewalt in Somalia ins Flüchtlingslager nach Kenia flüchtete. «Über die Jahre hat sich vieles verändert: Ich habe geheiratet und hier meine Kinder zur Welt gebracht, nun leben wir alle gemeinsam im Lager», erzählt sie. «Als wir hierherkamen, war das Leben besser. Nach den Geschehnissen in Somalia waren wir erleichtert, hier in Sicherheit zu sein, und die Unterstützung der Hilfsorganisationen war gut.»
Lebensmittelrationen werden immer kleiner
Janai beklagt sich darüber, dass sowohl Qualität als auch Umfang der Flüchtlingshilfe im Laufe der Jahre abgenommen haben: «Die Lebensmittelrationen sind kleiner geworden. Mit dem, was wir erhalten, kommen wir kaum zwei Wochen aus. In den Schulen unserer Kinder sind die Klassen überfüllt. Damals, als ich zur Schule ging, war das noch nicht so», sagt sie. «Ich glaube, dass das UN-Flüchtlingswerk zermürbt ist. Ich weiss nicht, warum sie uns immer wieder fragen, ob wir nach Somalia zurückkehren wollen, denn unsere Antwort lautet jedes Mal: nein. Auch was das Umsiedeln betrifft, hat sich über die Jahre einiges verändert, denn niemand macht es mehr.»
Vielen der rund 75 000 Flüchtlinge in Dagahaley – einem der drei Camps des Dadaab-Flüchtlingslagers – geht es ähnlich wie Janai. Sie beschweren sich über die schwindende humanitäre Hilfe und insbesondere die Lebensmittelrationen. Im September sah sich das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen gezwungen, die üblichen Lebensmittelrationen in den Flüchtlingslagern mangels finanzieller Mittel auf 70 Prozent zu reduzieren. Die Erfahrung der vergangenen Jahre lässt befürchten, dass sich der Gesundheitszustand der Flüchtlinge dadurch verschlechtern wird.
Drei Jahrzehnte im Flüchtlingslager mit knappem Essen, keinem Zugang zu spezialisierter Gesundheitsversorgung, kaum Jobmöglichkeiten und mieser Bezahlung sind nichts anderes als ein Angriff auf die Würde des Menschen
Für die 65-jährige Abdia, die 1991 aus Somalia nach Dadaab flüchtete, haben sich die Zustände in den Camps über die Jahre verschlimmert. «Im Vergleich zu jetzt war das Leben vor 20 Jahren viel besser. Die Lebensmittelrationen sind sehr klein und wenn du in meinem Alter bist und niemanden hast, der sich um dich kümmert, dann fällt dir das Leben hier sehr schwer», erzählt sie. «Wir können uns nicht frei bewegen und die Hilfsleistungen wurden enorm gekürzt.»
Für Flüchtlinge ohne Papiere ist der Zugang zu Grundversorgungsleistungen sogar noch schwieriger. Laut dem UN-Flüchtlingswerk gibt es im Dadaab-Flüchtlingslager 15 000 nicht registrierte Asylsuchende, von denen nur die besonders verletzlichen – also etwa die Hälfte – Ernährungshilfe erhalten. Nicht registrierte Flüchtlinge können die medizinische Betreuung von Ärzte ohne Grenzen in Dagahaley ebenfalls in Anspruch nehmen; was die sonstigen Lebensgrundlagen wie Unterkunft oder Kleidung betrifft, sind sie dagegen grösstenteils auf sich allein gestellt.
Sinkende Moral und fehlende spezialisierte Gesundheitsversorgung
Andere Flüchtlinge, wie der 42-jährige Abdo Mohamed Geda, der 2011 nach Dadaab kam, verdienen sich mit niederen Jobs etwas zu den kleinen Lebensmittelrationen, die sie erhalten, dazu. Um seine acht Kinder zu versorgen, sammelt er Feuerholz mit einem Eselkarren. «Kinder brauchen Milch, Essen und Kleidung», sagt er. «Jeden Morgen gehe ich los, um Essen für meine Familie aufzutreiben. Wenn ich nichts finde, belastet mich das sehr, dann liege ich nachts wach.» Abdo wird derzeit in unserem Spital in Dagahaley wegen Depressionen behandelt.
Durch die lange Zeit im Lager schwindet bei den Leuten die Hoffnung auf ein gesundes und sinnerfülltes Leben, was sich auf Dauer in akuten psychischen Problemen niederschlägt. Allein in Dagahaley begleiten unsere Teams jedes Jahr im Schnitt rund 5500 psychologische Beratungen. In Zeiten besonders grosser Angst schiesst diese Zahl oft in die Höhe, wie 2016, als die Schliessung der Camps drohte.
Im Oktober dieses Jahres behandelten unsere Teams zwei Patienten aus dem Dagahaley-Camp, die versucht hatten, sich das Leben zu nehmen. Einer von ihnen, ein 43-jähriger nicht registrierter Flüchtling aus Somalia, hatte versucht, sich zu erhängen, konnte aber rechtzeitig gerettet werden. Er hatte seit der Sperrung seiner Rationskarte im Jahr 2018 von Almosen gelebt. Doch mit der Kürzung der Lebensmittelrationen in den vergangenen Monaten sahen sich die Menschen aus seiner Umgebung dazu gezwungen, das wenige Essen, das sie noch erhielten, für sich selbst zu behalten. Beide Patienten sind weiterhin in Behandlung und werden psychologisch betreut.
Zu spezialisierten Behandlungen haben die meisten Flüchtlinge ebenfalls keinen Zugang. Während Ärzte ohne Grenzen in Dadaab eine grundlegende Primär- und Sekundärversorgung bereitstellt, muss für weiterführende oder spezialisierte Behandlungen das Lager verlassen werden. Allerdings ist dies nur in Notfällen gestattet. In diesen Fällen werden Patienten dabei unterstützt, sich im Regionalspital von Garissa oder in Nairobi behandeln zu lassen. Dadurch hat sich die Zahl der Personen, die eine solche Behandlung benötigen, mit jedem Jahr erhöht, wodurch ein grosser Rückstau an Patientinnen und Patienten entstanden ist. Allein in Dagahaley warten mehr als 1100 Personen auf einen elektiven chirurgischen Eingriff oder andere Spezialbehandlungen.
Es müssen dringend Lösungen her
«Wenn das im Globalen Pakt für Flüchtlinge verankerte Ziel, die Selbstständigkeit von Flüchtlingen zu stärken, erreicht werden soll, dann ist es an der Zeit, dass die kenianische Regierung und die internationale Gemeinschaft Massnahmen ergreifen, um nachhaltige Wege zu finden, über die die Flüchtlinge das Lager verlassen können», so Krause. «Mit Massnahmen, die die Freizügigkeit der Flüchtlinge und deren Zugang zur Grundversorgung fördern, und Investitionen von Gebergeldern in lokale Strukturen hätten Flüchtlinge die Möglichkeit, ein würdiges Leben zu führen. Die einheimische Bevölkerung würde davon ebenfalls profitieren.»
Bislang lautete der Lösungsvorschlag für diese endlos erscheinende Flüchtlingskrise, die Camps nach und nach zu schliessen. Doch die meisten Flüchtlinge wollen nicht zurück nach Somalia. Von denen, die heimgekehrt sind, sind viele aufgrund der dort weiterhin herrschenden Unsicherheit und der fehlenden Grundversorgung nach Dadaab zurückgekommen. Das Programm zur Umsiedlung von Flüchtlingen in Drittländer wurde ebenfalls fast komplett gestoppt.
Wir haben das Gefühl, dass man uns mit den schwierigen Lebensbedingungen im Lager dazu zwingen will, in unsere Heimat zurückzukehren.
«Wenn sich nichts ändert, dann bleibt uns womöglich nichts anderes übrig», fährt Geda fort. «Wir haben weiterhin die Hoffnung, dass unser Land eines Tages wieder sicher sein wird und wir nach Hause gehen können. Und wenn nicht, dann hoffen wir darauf, in ein Drittland umgesiedelt zu werden.»
Andere würden sich gern in der Region ansiedeln dürfen. «Am besten wäre es, wenn das Umsiedlungsprogramm fortgesetzt werden könnte», sagt der 56-jährige Amphile Kassim Mohamed. «Ansonsten würden auch schon die Sicherung des Lebensunterhalts oder eine bessere Integration vor Ort reichen. Die Bewegungsfreiheit sollte ebenfalls gefördert werden, damit wir mit anderen Leuten leichter Handel betreiben können.»
Jede vierte Person in Garissa County ist ein Flüchtling
Als die Zahl der Flüchtlinge im Dadaab-Lager vor einiger Zeit den Höchstwert von fast einer halben Million erreichte, gerieten die Flüchtlinge zwangsläufig in den Fokus. Selbst heute ist in Garissa County, wo sich das Lager befindet, jede vierte Person ein Flüchtling. Garissas Indikatoren für die soziale Entwicklung zählen zu den niedrigsten in ganz Kenia und selbst die Einheimischen haben teilweise keinen Zugang zur Grundversorgung.
Vor Kurzem sass Khadijo Abdul Malik morgens mit ihrem Sohn in einer Kinderkrankenstation von Ärzte ohne Grenzen in Dagahaley. Zwei Stunden hatte die Anreise aus einem der umliegenden Dörfer des Wajir County mit dem Sammeltaxi gedauert. Es war nicht ihr erster Besuch in der Kinderkrankenstation und auch viele andere Bewohner ihres Dorfes nutzen regelmässig die medizinischen Einrichtungen im Camp. Unsere Daten zeigen, dass rund ein Fünftel der Patientinnen und Patienten der primären Gesundheitsberatung in Dagahaley Einheimische sind.
Einheimische Bevölkerung zählt auf die medizinische Versorgung im Lager
Dass die spärliche humanitäre Hilfe eine derartige Anziehungskraft hat, unterstreicht, wie besorgniserregend die Basisinfrastruktur in der Region ist. Viele Einheimische vertrauen seit Jahren auf die medizinische Versorgung im Lager, sodass dessen Schliessung und ein Abzug der internationalen Unterstützung auch beträchtliche Auswirkungen auf die umliegenden Dörfer hätte.
«Es ist äusserst wichtig, dass sowohl die Flüchtlinge als auch die einheimische Bevölkerung weiter aktiv an der Lösung der Flüchtlingskrise in Dadaab beteiligt werden», sagt Krause. «Während nach langfristigen Lösungen gesucht wird, benötigen die Flüchtlinge weiterhin fortdauernde Unterstützung. Gleichzeitig muss dafür gesorgt werden, dass auch die einheimische Bevölkerung einen leichteren Zugang zur Grundversorgung erhält.»
Seit 1991 stellt Ärzte ohne Grenzen in Dadaab die medizinische Versorgung von Flüchtlingen sicher und hat damit einen Grossteil der bewegten Geschichte des Lagers hautnah miterlebt. Unsere derzeitigen Einsätze konzentrieren sich auf das Dagahaley-Camp, wo wir Flüchtlingen und der einheimischen Bevölkerung mit zwei Krankenstationen und einem Spital mit 100 Betten eine umfassende Primär- und Sekundärversorgung bieten, z. B. Unterstützung im Bereich sexueller und reproduktiver Gesundheit – einschliesslich Notkaiserschnitte –, medizinische und psychologische Betreuung von Opfern sexueller oder geschlechtsbezogener Gewalt, psychische Gesundheitsfürsorge, häusliche Insulintherapien sowie palliative Pflege. In den vergangenen zehn Jahren hat sich Ärzte ohne Grenzen zudem an zwölf Noteinsätzen im Nordosten Kenias – darunter waren zwei Cholera-Epidemien in den Flüchtlingscamps – beteiligt.
2018 behandelte Ärzte ohne Grenzen in Dagahaley jeden Monat im Schnitt 14 000 Patientinnen und Patienten ambulant und rund 860 stationär und begleitete zudem insgesamt 2584 Geburten.
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