Mangelernährung im Tschad: Eine wiederkehrende Krise
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In der Sahelzone hat die jährliche Ernährungskrise gerade erst begonnen, aber in einigen Regionen des Tschads ist die Lage schon jetzt schlimmer als gewöhnlich.
In ein paar Wochen werden die starken Regenfälle grosse Teile des Landes unzugänglich gemacht haben, und es wird unmöglich sein, mangelernährte Kinder, die dringend behandelt werden müssen, zu erreichen.
MSF betreibt im Tschad weiterhin reguläre Projekte zur Behandlung und Vorbeugung der Mangelernährung. Doch die Reaktion auf die aktuelle Krise wird zu einem wahren Wettlauf gegen die Zeit.
Jede Woche werden in den fünf Ernährungsprogrammen von MSF im Tschad 500 schwer mangelernährte Kinder aufgenommen. Die Nahrungsmittelbestände schwinden rasch, aber hier in den Sahelregionen des Landes, wird die erste Ernte nicht vor einem Zeitraum von zwei Monaten bereit sein. Das Szenario ist in dieser Gegend wohlbekannt, doch 2012 sieht die Ernährungslage, bedingt durch zu wenig Regen und steigende Nahrungsmittelpreise, noch schlimmer aus als sonst üblich.
„Kein neues Problem“
„Mangelernährung ist im Tschad kein neues Problem: Wir schätzen, dass eines von zehn Kindern in den Sahelgebieten während des Jahres an akuter Mangelernährung leidet“, sagt Alexandre Mohain, Einsatzleiter von MSF im Tschad. „Eine schlechte Ernte, der Ausbruch einer Krankheit wie der Masernepidemie zu Beginn des Jahres oder eine Kombination aus diesen beiden führen dazu, dass zehntausende Kinder mangelernährt werden.“
Im Februar von MSF durchgeführte Evaluierungen führten zu einem besorgniserregenden Ergebnis: In manchen Dörfern der Regionen Batha und Salamat liegt die Rate der akuten Mangelernährung bei über 20 Prozent. In Am Timan, im Osten des Landes, stieg die Rate der von Januar bis Mitte Juni in das Ernährungsprogramm von MSF aufgenommenen Kinder im Vergleich zum Vorjahr um fast 30 Prozent. Eine Ende Juni im östlich von N'Djamena gelegenen Distrikt Bokoro durchgeführte Schnell-Evaluierung ergab Mangelernährungs-Raten von über 13 Prozent.
Die tschadischen Gesundheitsbehörden und die humanitären Organisationen schlugen früh Alarm, und schon im letzten Winter wurden Massnahmen als Reaktion auf den Notfall eingeleitet. Dank diesem frühzeitigen Handeln können im Jahr 2012 wahrscheinlich 127’000 schwer mangelernährte Kinder behandelt werden – doppelt so viele wie 2011.
Zusätzliche Behandlungszentren
Die Reaktion von MSF auf die Krise beinhaltet den Ausbau schon existierender Programme und die Eröffnung drei neuer Projekte. In Massakory, wo MSF Projekte zu Kindergesundheit und Ernährung betreibt, werden zwei neue dezentralisierte Behandlungszentren errichtet. Im intensiv-therapeutischen Ernährungszentrum in Am Timan wurde die Bettenanzahl um 20 erhöht, um mehr schwer mangelernährte Kinder aufnehmen zu können. Neue Projekte gibt es auch in Biltine, Abou Deïa und Yao im Osten und der Mitte des Landes.
Die Zahl der therapeutischen Ernährungszentren im Tschad hat sich innerhalb eines Jahres verdoppelt. In einigen Regionen haben humanitäre Helfer mit der Verteilung von Nahrungsmitteln, unter anderem speziell auf die Bedürfnisse von Kindern abgestimmte Nahrungsergänzung, begonnen.
Aber es wird schwierig sein, diese Aktivitäten aufrechtzuerhalten, wenn einmal die Regenzeit in vollem Gang ist. In der Sahelregion leben die Menschen in weit verstreuten Siedlungen, die Strassen sind kaum mehr als sandige Feldwege, die Dörfer weit voneinander entfernt. Um all die mangelernährten Kinder erreichen zu können, sind erhebliche Ressourcen nötig. Doch die ersten Regenfälle haben bereits eingesetzt: In ein paar Wochen werden die Strassen nicht mehr passierbar sein.
In Yao führt MSF einen Wettlauf gegen die Zeit, versucht so viele Kinder wie möglich zu behandeln, solange die Dörfer noch erreicht werden können. Die Teams reisen in 18 entlegene Orte, wo sie aktiv Fälle von Mangelernährung ausfindig machen und nicht warten, bis die betroffenen Kinder ernsthaft krank werden.
Langfristige Massnahmen gefragt
„Im Tschad und allen anderen betroffenen Ländern der Sahelregion darf ein Nothilfe-Einsatz nicht die einzige Lösung sein. Es wirkt so, als würde das Problem der Mangelernährung erst jetzt entdeckt werden, als ob es etwas Neues wäre. Dabei ist es doch wiederkehrend und strukturell“, erklärt Michel-Olivier Lacharité, MSF-Programmverantwortlicher für den Tschad. „Zusätzlich zu den Einsätzen als Reaktion auf besonders heftige Krisen sollten präventive Massnahmen und die Behandlung von Mangelernährung das ganze Jahr hindurch angeboten werden. Sie sollten ein fester Bestandteil der Gesundheitsversorgung von Kindern werden – genauso wie regelmässige Impfungen.“
In Massakory, in der Region Hadjer Lamis, bemüht sich MSF in einem 2010 eröffneten Projekt darum, diese Integrierung voranzutreiben. Bis Mitte Juni wurden in den Ernährungszentren von MSF im Tschad 10’000 schwer mangelernährte Kinder behandelt. Etwa 500 tschadische und internationale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten derzeit in fünf spezialisierten Spitälern und über 40 ambulanten therapeutischen Ernährungszentren.
MSF führt weiter Evaluierungen in verschiedenen Regionen des Landes durch und ist bereit in den nächsten Wochen weitere Programme zu eröffnen.
Zu den anderen Aktivitäten von MSF im Tschad zählen die Behandlung von Geburtsfisteln in Abeche und Malaria in Moïssala im Süden.
Im April reagierte MSF auf eine Meningitis-Epidemie, behandelte mehr als 3’100 Menschen und impfte 470’000.
Zwischen Januar und Mai 2012 impfte MSF ausserdem mehr als 20’000 Kinder gegen Masern.