Region Kasai: «Selbst die Vögel haben aufgehört zu singen»
Demokratische Republik Kongo4 Min.
Seit einem Jahr herrscht in der kongolesischen Region Kasai, an der Grenze zu Angola, eine schreckliche humanitäre Krise. Die internationale Präsidentin von MSF Joanne Liu ist gerade aus der Stadt Kananga zurückgekehrt. Sie schildert ihre Eindrücke zur anhaltenden Gewalt.
Während meines Besuchs bin ich mit unserem Team in den ländlichen Teil der Region Kasai gefahren, der besonders von der Gewalt betroffen ist. Dörfer und Felder sind abgebrannt, mehrere Massengräber wurden entdeckt. Ein Mann kam auf uns zu und sagte sehr gefasst: «Die Gewalt war so schlimm hier, dass wir Tage lang nicht einmal die Vögel singen hörten.»
Die Angst war allgegenwärtig
Bei meiner Ankunft hatte ich trotz allem den Eindruck, als wäre nichts passiert. Kananga ist eine typische kongolesische Stadt mit rund 750’000 Einwohnern. Die Märkte waren sehr belebt und laute Musik drang aus den kleinen Läden. Das war definitiv nicht das Kananga, das meine Kolleginnen und Kollegen im März vorgefunden hatten. Damals herrschte Totenstille in der Stadt. Schulen und Geschäfte waren geschlossen. Die Angst war allgegenwärtig. Mir wurde klar, dass die Atmosphäre nun wohl jener gleicht, die man am Grab eines lieben Menschen ein Jahr nach seinem Tod verspürt: Gras ist über das Grab gewachsen, das tägliche Leben geht weiter.
Von meinem Aufenthalt sind mir aber andere Eindrücke im Gedächtnis geblieben. Ich erinnere mich an ein junges Mädchen, das lachend hinter anderen Kindern im Spital herlief. Ihr war nichts anzumerken, doch wenige Wochen zuvor war ihre Schwester vor ihren Augen geköpft worden. Bewaffnete Männer hatten das Mädchen mitgenommen und sie zehn Tage lang gefesselt festgehalten. Sie wurde unzählige Male vergewaltigt. «Wenn du redest, schneiden wir dir den Kopf ab, so wie deiner Schwester», sagten sie ihr. Es ist unvorstellbar, was die Menschen in Kasai durchgemacht haben.
Die humanitäre Hilfe ist eingeschränkt
Die Krise in Kasai begann bereits vor einem Jahr, doch es verging viel Zeit, bevor wir ihre Ausmasse erkannten. In den schlimmsten Monaten kam gar keine humanitäre Hilfe – auch jetzt noch kommt sie nur tröpfchenweise an. Warum baten die Menschen nicht früher um Hilfe? Ein Dorfältester antwortete: «Wenn du auf dem Boden liegst und auf dich geschossen wird, kannst du nicht aufstehen und wegrennen». Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) kam erst im März nach Kananga – sehr spät, zu spät. Heute ist uns bewusst, dass wir weiterhin nur an der Oberfläche kratzen.
Die Wunden unserer Patienten erzählen von der extremen Gewalt, der die Menschen in Kasai ausgesetzt sind. Vor Angst haben manche Schwerverletzte Tage oder Wochen gewartet, bevor sie einen Arzt aufsuchten. Einem unserer Patienten zum Beispiel wurde eine Hand abgetrennt. Er versteckte sich mehrere Wochen lang im Buschland, aus Angst gefunden und getötet zu werden. Seine Wunde behandelte er mit traditionellen Methoden. Als er in unserem Spital ankam, hatte sich ein Abszess gebildet, sein Unterarmknochen war entzündet. Seine Chancen, einer weiteren Amputation zu entgehen, sind gering.
Eine menschliche Tragödie
Wenn unsere Psychologen-Teams fragen, was passiert ist, erzählen unsere Patientinnen und Patienten nie, wer ihnen das angetan hat. Die Angst bleibt. Aber sie erzählen uns ihre furchtbaren Geschichten: Männer werden vor den Augen ihrer Frauen geköpft, Frauen vor ihren gefesselten Männern und Kindern vergewaltigt. Im Nachhinein kommen immer dieselben Fragen auf: Wie kann ich meinen Unterhalt bestreiten, meine Familie ernähren, mein Zuhause wieder aufbauen? Wie sieht meine Zukunft aus?
Die Krise in Kasai ist wie ein Waldbrand in den trockensten Sommermonaten: Ein einziger Funke im August 2016 reichte aus, um die ganze Region in Flammen zu setzen. Millionen Menschen sind der Gewalt der Milizen ausgeliefert, werden vom Militär unterdrückt und gegängelt. Hinzu kommen lokale Konflikte. Auch wenn Kananga heute nach und nach zur Normalität zurückkehrt, hört man sehr Beunruhigendes aus anderen Teilen der Region. Aus Sicherheitsgründen ist fast kein Zugang zu diesen Regionen möglich, und so bleibt die Ungewissheit darüber, ob es sich um Gerüchte oder ernstzunehmende Meldungen handelt. Sicher ist: Selbst wenn es von aussen betrachtet so wirkt, als wäre nie etwas passiert, hat sich hier eine menschliche Tragödie abgespielt – und sie ist noch nicht vorbei.
MSF betreibt im allgemeinen Spital von Kananga eine Notaufnahme mit 70 Betten. Unser Team hat den Operationssaal wieder in Betrieb genommen und behandelt kostenlos Unfall- und Gewaltopfer. Seit April 2017 wurden 238 Patienten eingeliefert und 550 Operationen durchgeführt. Ein mobiles Team arbeitet im Umland von Kananga und hat bis anhin mehr als 9’000 Sprechstunden abgehalten. Weitere mobile Teams sind im Süden des Bezirks von Kasai unterwegs.
Seit Juni unterstützt MSF ausserdem drei Gesundheitszentren und ein Spital in verschiedenen Teilen der Stadt Tshikapa (Bezirk Kasai), mit einem Schwerpunkt auf die Versorgung von Kindern unter fünf Jahren, Schwangeren und jungen Müttern sowie von Verletzten und Notfällen. Im Juli haben unsere Teams die Aktivitäten auf verschiedene ländliche Regionen um Tshikapa ausgeweitet.