Samos: Mehr als 570 Menschen nach 42 Bootsankünften behandelt
© MSF/Alice Gotheron
Griechenland3 Min.
Geflüchtete und Migrant:innen, die von Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) behandelt werden, berichten immer häufiger von gewaltsamen Abfangaktionen und Zwangsrückführungen während ihrer Flucht. Dabei geht es um körperliche und psychische Gewalt, sowohl an Land als auch auf See. Innerhalb der letzten zwölf Monate haben unsere Teams über 570 Mal medizinische und psychologische Ersthilfe auf der Insel nahe der türkischen Küste geleistet. Unter den Patient:innen waren auch 24 schwangere Frauen.
Die Schutzsuchenden landen in der Regel an der abgelegenen und gebirgigen Küste von Samos. Aus Angst, von den Behörden aufgegriffen und zurückgeschickt zu werden, verstecken sich die meisten, sobald sie das Land erreichen. «Einige Menschen können vor Angst weder sprechen noch gehen», sagt Nicholas Papachrysostomou, Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen in Griechenland.
Manche Menschen hätten sich mehrere Tage lang ohne Nahrung und Wasser versteckt, um nicht von den Behörden entdeckt zu werden. «Jetzt, im Sommer, sehen wir viele Patient:innen, die einen Hitzschlag erlitten haben und an Dehydrierung leiden», so Papachrysostomou. «In den Wintermonaten hingegen mussten wir drei Personen wegen Erfrierungen behandeln, die sich mehrere Tage lang bei eisigen Temperaturen im Freien versteckt hatten. Ausserdem behandeln wir häufig Verletzungen, die sich die Menschen in den steilen Felswänden auf der Insel zuziehen.» Bei einem Einsatz im April 2022 behandelten unsere Teams eine ganze Gruppe, die auf der Flucht vor den Grenzbehörden eine Klippe hinuntergestürzt war.
Abfangaktionen werden immer gewaltvoller
Viele der Ankommenden sind Frauen und Kinder. Eine Frau brachte ihr Kind ohne medizinische Hilfe im Freien zur Welt, nachdem sie sich mehrere Tage auf Samos versteckt hatte. Eine andere schwangere Frau lag in den Wehen, als unser medizinisches Team vor Ort eintraf. Die meisten Ankommenden erzählen, dass sie auf ihren Reisen von Sicherheits- und Grenzbehörden abgefangen wurden und Gewalt ausgesetzt waren. Sie berichten von Schlägen, Leibesvisitationen, erzwungenen Genitaluntersuchungen, Diebstahl von Hab und Gut und das Treibenlassen in motorlosen Schlauchbooten auf dem Meer.
Auch wenn die Teams von Ärzte ohne Grenzen nicht direkt Zeuge von gewaltsamen Abfangaktionen und Zwangsrückführungen geworden sind, deuten Berichte von Patient:innen darauf hin, dass diese immer häufiger und gewaltvoller werden. «Gewaltsame Abfangaktionen und Zwangsrückführungen sind nicht nur illegal, sondern gefährden auch das Recht der Menschen, Asyl zu beantragen», sagt Sonia Balleron, Projektkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen. «Diese Praktiken setzen die Menschen einem weiteren Trauma und dem Risiko langfristiger körperlicher und psychischer Gesundheitsprobleme aus. Es liegt in der Verantwortung der griechischen und europäischen Behörden, dafür zu sorgen, dass die Gesetze eingehalten und die Verfahren zur Aufnahme, Identifizierung und zum internationalen Schutz wirksam angewandt werden.»
Unsere Arbeit in Samos
Ärzte ohne Grenzen leistet auf der Insel Samos erste medizinische Hilfe. Bevor die Teams sich an einen Ort begeben, um Menschen in Not zu helfen, benachrichtigen sie alle zuständigen Behörden und koordinieren Spitaleinweisungen mit den Sicherheits- und Gesundheitsbehörden vor Ort. Nach der medizinischen und psychologischen Erstversorgung durch Ärzte ohne Grenzen werden die Ankommenden von den Sicherheitsbehörden in das sogenannte Closed Controlled Access Centre (CCAC) gebracht, ein Hochsicherheits-Aufnahmezentrum, das etwa eine Stunde Fussweg vom Hauptort Vathy entfernt liegt.
Nach fünf Tagen Quarantäne dürfen unsere Teams die Menschen besuchen, um ihren Gesundheitszustand zu überprüfen und sicherzustellen, dass sie rechtzeitig eine weitere medizinische Versorgung erhalten. Der Aufenthalt in dem Aufnahmezentrum ist die einzige Möglichkeit für Neuankömmlinge, sich registrieren zu lassen. Sie müssen dort langwierige und komplizierte rechtliche Verfahren durchlaufen, um ihre Asylanträge abzuschliessen.
© MSF/Alice Gotheron