Syrien: "Es macht einen wütend und traurig, die Auswirkungen auf das Leben der Menschen zu sehen"
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Eine Pflegefachfrau erzählt von ihrer Erfahrung im MSF-Spital in Syrien.
Ruth Priestley ist eine OP-Pflegefachfrau aus Australien, die kürzlich neun Wochen mit Médecins Sans Frontières / Ärzte ohne Grenzen (MSF) in Syrien war. Sie war im Spital tätig, das seit Mitte Juni von MSF mithilfe der Union syrischer medizinischer Hilfsorganisationen betrieben wurde. Bis Ende September wurden dort mehr als 1’100 Patienten behandelt und mehr als 260 chirurgische Eingriffe durchgeführt.
Welche Verletzungen haben Sie gesehen?
Unsere Patienten hatten vor allem Schusswunden oder waren durch Bombenexplosionen verletzt worden – sie sind also durch Kriegshandlungen verletzt worden. Wir haben sehr viele orthopädische und Eingriffe im Bauchraum durchgeführt. Patienten hatten verletzte Organe und brauchten schwere chirurgische Operationen. Manchmal hatten sie 13 oder mehr Löcher im Darm, Blasenverletzungen, oder ihre Milz war zerrissen worden.
Ein Mann, den wir operiert haben, hatte mindestens 20 Wunden in seinem Körper – durch Bombenexplosionen, Granatsplittern und Kugeln. Sie begannen an seinen Füssen, gingen die Beine entlang bis zum Rumpf und endeten an seinem rechten Nasenloch und seiner linken Stirnhälfte. Trotzdem hat er das irgendwie überlebt und hatte keine grösseren inneren Verletzungen. Er war an den Händen stark verletzt und war dann überglücklich, dass wir keine Armamputation vornehmen mussten.
Gab es noch andere Patienten, die einen starken Eindruck hinterlassen haben?
Von den ersten 29 Operationen, die wir gemacht haben, haben wir 9 beim selben jungen Mann durchgeführt. Seine Verletzungen führten zu einer Amputation des Beines und eines Teils der Hüfte. Er kam regelmässig zurück für weitere Eingriffe, bis wir die Wunde schliesslich schliessen konnten und er entlassen wurde. Danach kam er auf Krücken mit seinem Bruder bei uns vorbei – beide mit einem breiten Lächeln im Gesicht, glücklich, uns alle wiederzusehen, die sich um ihn gekümmert hatten. Es war so schön, seine Genesung mitzuerleben und zu sehen, dass es ihm gut ging. Einige Wochen später erhielten wir die traurige Nachricht, dass dieser junge Mann in einer Bombenexplosion in Aleppo getötet worden war. Das hat uns alle sehr mitgenommen.
Nach einem Bombenanschlag auf einen Basar in einer nahe gelegenen Stadt wurden etwa sieben Kinder auf einmal eingeliefert. Darunter war ein 9-jähriges Mädchen, das eine offene Bauchwunde und Verletzungen an beiden Beinen hatte. Wir haben die Darmoperation gemacht und mussten ein Bein amputieren. Wir mussten die weiteren Eingriffe im OP wie Verbandwechsel und Wundverschlüsse danach ausrichten, wie ihr kleiner Körper all die Anästhesien bewältigen konnte. Bei diesem Bombenanschlag sind auch zwei ihrer Geschwister und vier ihrer Cousins getötet worden.
War es schwierig, das emotional zu bewältigen?
Es kann schwierig sein, wenn man mit solch entsetzlichen Verletzungen konfrontiert ist, aber als Mediziner macht man einfach weiter, mit dem Wissen, dass es um die Patienten geht und nicht darum, wie man selbst reagiert. Ich bin mir auch immer bewusst, dass ich im Unterschied zu ihnen weggehen kann.
Aber es macht einen wütend und sehr traurig, die Auswirkungen auf das Leben der Menschen zu sehen. Bei der Bombardierung des Basars wurden Zivilisten bombardiert… das macht einen wütend. Tag für Tag haben wir die Realität des Kriegs gesehen und die Zerstörung, die daraus resultiert. All diese Menschen wurden verletzt und für ihr Leben verstümmelt.
Wie hat sich die Situation verändert?
Als ich ankam, waren wir sehr beschäftigt. Wir haben Tag und Nacht gearbeitet und wussten kaum, ob es 3 Uhr nachts oder 3 Uhr nachmittags war. Ich musste mir das Datum und die Uhrzeit notieren, um nicht den Boden unter den Füssen zu verlieren. Am Ende der ersten dreieinhalb Wochen fühlte es sich an, als wäre ich in der Waschmaschine geschleudert worden, mit kaum Zeit zum Luftholen. Nach den ersten paar Wochen wurde es dann ruhiger.
Eine weitere Veränderung war, dass die Bevölkerung in unserem Dorf anwuchs, da die Menschen aus den Konfliktgebieten dorthin kamen. In den meisten oder fast allen Häusern lebten mehrere Familien, und viele Familien campierten in einer der Schulen. Andere blieben an der Grenze unter den Olivenbäumen und warteten darauf, das Gebiet als Flüchtlinge verlassen zu dürfen. Wegen dieser veränderten Lage kamen dann vermehrt Patienten, die eine medizinische Grundversorgung brauchten, einschliesslich solchen mit chronischen Erkrankungen und Durchfall. Wir haben den Bedarf permanent überwacht und unsere Leistungen entsprechend angepasst.
Während meines gesamten Einsatzes in Syrien hatten wir weiterhin Patienten mit schweren Kriegsverletzungen, bei denen lebensrettende Notoperationen erforderlich waren. Als dann die lokalen Feldspitäler eingerichtet waren, waren einige unserer Patienten bereits gut chirurgisch versorgt worden, so dass wir uns nur noch um die Verbände und die allgemeine Pflege kümmern mussten.
Wo kamen Ihre Patienten her?
Unsere Patienten kamen zum Teil von sehr weit weg. Einige kamen aus Aleppo oder anderen Städten, von wo aus sie etwa fünf Stunden unterwegs waren. Diese Zeitspanne zwischen Verletzung und Behandlung hat sehr negative Auswirkungen.
Gab es Sicherheitsvorfälle?
Es gab Momente, in denen wir auf Abruf waren, bereit um uns und unsere schwerverletzten Patienten bei Bedarf zu evakuieren. Der Chirurg musste abwägen, wie schnell wir bestimmte Eingriffe vornehmen konnten, um zu entscheiden, ob wir die Operation beenden konnten, bevor wir hätten evakuieren müssen. Das waren schwierige Entscheidungen.