«Ich habe unterwegs viele Leichen gesehen» – Berichte zu den zahlreichen sudanesischen Verletzten in Ost-Tschad
© MSF/Mohammad Ghannam
Sudan9 Min.
Als der aktuelle Konflikt im Sudan Mitte April ausbrach, herrschte in der Region Darfur bereits Gewalt, insbesondere zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen. Die zunächst in Khartum ausgebrochenen Kämpfe zwischen den sudanesischen Streitkräften (SAF) und den Rapid Support Forces (RSF) haben auch die Konflikte zwischen den Gemeinschaften in West-Darfur, insbesondere in der Stadt El Geneina, wieder aufleben lassen.
Die Gewalt zwischen verfeindeten Bevölkerungsgruppen und umfangreiche Angriffe gegen die Zivilbevölkerung trieben Hunderttausende Menschen über die Grenze nach Adré im Osten des Tschads. Die Teams von Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF), die dort bereits seit 2021 tätig sind, bauten daraufhin ihre medizinischen Aktivitäten aus, um auf diesen Massenanfall von Verletzten zu reagieren und sich um die zahlreichen Menschen auf der Flucht zu kümmern. Zahlreiche Patient:innen der chirurgischen Abteilung von Adré erzählten unseren Teams, was sie erlebt haben. Viele gaben an, in El Geneina und während ihrer Flucht aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den Masalit Opfer von arabischen Milizen geworden zu sein.
«Mit so vielen Verletzten hatten wir nicht gerechnet»
Ende Mai/Anfang Juni spitzte sich die Gewalt in West-Darfur zu, doch in der chirurgischen Abteilung, die von Ärzte ohne Grenzen und dem Gesundheitsministerium des Tschads errichtet wurde, kamen nur wenige Verletzte an. Detonationen und Rauchschwaden erinnerten währenddessen täglich daran, dass auch in unmittelbarer Nähe der Grenze Kämpfe stattfanden.
Bis zum 2. Juni wurden insgesamt 72 Verletzte im Spital versorgt. Die meisten von ihnen hatten Schussverletzungen und konnten aus der Stadt Masterei und Umgebung im Süden von El Geneina entkommen und in die Stadt Goungour im Tschad fliehen. Dort wurden sie von Pflegepersonal von uns und des Gesundheitsministeriums untersucht und weiterüberwiesen. Berichten zufolge sassen dagegen Hunderte, wenn nicht Tausende Verletzte fest und hatten keinen Zugang zu lebenswichtiger medizinischer Versorgung. Denn den medizinischen Einrichtungen in Darfur fehlte es an allem, viele waren geplündert oder zerstört worden. Die wichtigste Handels- und Verkehrsroute zwischen El Geneina – der rund 30 Kilometer weiter östlich gelegenen Hauptstadt von West-Darfur – und Adré war gesperrt.
Am 15. Juni überschlugen sich dann die Ereignisse: Nachdem die Bewohner:innen von El Geneina zwei Monate nicht aus ihrer Stadt herausgekommen waren, gelang es ihnen nun, nach Adré zu fliehen. 261 Kriegsverletzte wurden allein an diesem Tag im Spital aufgenommen.
Für Dr. Papi Maloba, unser einziger Chirurge, der Mitte Juni in Adré war, begann dieser Tag ganz normal: Nach der Visite operierte er gerade mit seinem Team einen Jungen: «Auf einmal hörten wir jemanden schreien: ‹Schnell, hierhin, es kommen von überall Patienten!› Natürlich konnten wir unseren Patienten mit seinem offenen Bauch nicht einfach liegen lassen. Im OP-Saal war es ruhig, aber draussen herrschte grosse Aufregung. Fahrzeuge der tschadisch/sudanesischen Militäreinheit, die unter dem Namen «Force mixte» bekannt ist, brachte Patient:innen ins Spital. Auch unsere Teams lieferten immer mehr Menschen ein. Andere Verletzte wurden von Angehörigen oder auf von Eseln gezogenen Karren zu uns gebracht. Wir wussten gar nicht, wo wir anfangen sollten. Es ging um schwere Verletzungen an Bauch, Brust, den unteren Extremitäten, Gesäss oder Rücken. Wir kümmerten uns um die Triage und Untersuchung der Verletzten, um zu entscheiden, wer zuerst operiert werden sollte.
In knapp zwei Stunden hatte sich das Spital in ein regelrechtes Lazarett verwandelt. Immer mehr Patient:innen strömten herein, wir wussten gar nicht mehr, wo wir sie unterbringen sollten. Dass Menschen bei uns ankommen würden, falls die Strasse aus El Geneina wieder geöffnet und nach erfolgreichen Verhandlungen ein Korridor für die Menschen geöffnet würde, wussten wir. Wir hatten uns auf dieses Szenario vorbereitet. Aber wir hatten nicht mit so vielen Verletzten auf einmal gerechnet. Wir dachten, dass der Tag danach etwas ruhiger sein würde, dass wir die Dinge besser planen könnten. Doch das Gegenteil war der Fall: Rund 400 weitere verletzte Menschen suchten unsere Hilfe.
Dieser Massenanfall von Verletzten erforderte sofortiges und umfassendes Handeln in Adré: Man musste Platz schaffen, Zelte aufbauen und Verstärkung finden. Die Einwohner:innen der Stadt bringen den Patient:innen und Geflüchteten Mahlzeiten. Dienstfreies Pflegepersonal wird zurückbeordert, der Chefarzt des Spitals, Leiter der Kinderabteilung und mehrere Mitarbeitende des Gesundheitsministeriums helfen in der chirurgischen Abteilung aus, während die Hilfsorganisation Première Urgence Internationale sich um die Verletzten der Kategorie «grün» kümmert, also um jene, die keine lebensbedrohlichen Verletzungen aufweisen.
Mehr als 850 Kriegsverletzte in drei Tagen
Zwischen dem 15. und 17. Juni wurden 858 Verletzte eingeliefert, davon 387 allein am 16. Juni. Es handelt sich damit um einen der grössten Massenanfälle von Verletzen, für den unsere Teams mobilisiert wurden. An den darauffolgenden Tagen kamen durchschnittlich rund 46 Verletzte pro Tag in die Notaufnahme. Vom 25. Juni bis Ende Juli lag dieser Durchschnitt bei rund zehn Patient:innen pro Tag.
Die grosse Mehrheit der Verletzten, die zwischen dem 15. und dem 17. Juni in die Notaufnahme eingeliefert wurden, hatte Schusswunden mit mehrfachen traumatischen Verletzungen, vor allem an Bauch, Rücken und Beinen. Es waren vor allem Männer, aber auch Frauen und Kinder. Der jüngste Patient war gerade einmal zwei Monate alt, der älteste 70 Jahre.
Rund 47 Prozent wurden der Kategorie «grün» zugeordnet, sie hatten also nicht lebensgefährliche Verletzungen und konnten sich noch bewegen. 49,5 Prozent waren Fälle der Kategorie «gelb». Hierbei handelt es sich um schwere Verletzungen, bei denen der Allgemeinzustand es aber erlaubt, abzuwarten, ohne die Heilungschancen zu verschlechtern. 3,4 Prozent waren «rote» Fälle, das heisst absolute Notfälle, bei denen so schnell wie möglich eine Behandlung durchgeführt werden musste.
Sieben Patient:innen starben auf dem Weg ins Spital. Menschen mit offenen Brüchen, die eine orthopädisch-chirurgische Behandlung benötigten, die im Spital von Adré nicht verfügbar war, wurden an Spitäler in Abéché überwiesen. Die vielen «grünen» und «gelben» Fälle deuten darauf hin, dass Verletzte, die noch gesund genug waren, um die Reise in den Tschad anzutreten oder fortzusetzen, von unserer Behandlung profitieren konnten, während mit Sicherheit viele andere in kritischerem Zustand zurückgeblieben sind. 62 schwangere Frauen waren unter den Verletzten, die zwischen dem 15. und 18. Juni eintrafen. Sie wiesen hauptsächlich Schussverletzungen auf, hatten aber teilweise auch Schläge und andere Formen der Gewalt erlitten.
Mit einigen Ausnahmen gehören die Verletzten, die im Spital von Adré behandelt werden, zu der nicht-arabischen Volksgruppe der Masalit aus Darfur, die im Tschad und dem Sudan leben. Sie flüchteten vor der Gewalt nach Adré, da es dort bereits eine grosse Gemeinschaft von Masalit gibt. Die Geschichten, die uns erzählt wurden, spiegeln somit ausschliesslich die Erfahrungen der zivilen Masalit-Bevölkerung in El Geneina wider, nicht aber die Erfahrungen aller Bewohner:innen von West-Darfur oder El Geneina.
Berichte über Gewalt aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit
Sehr viele Patient:innen berichten, während ihrer Flucht in den Tschad und in El Geneina aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu den Masalit Opfer von arabischen Milizen geworden zu sein. Mehrere Menschen berichteten von Morddrohungen, die sie dazu zwangen, die Stadt zu verlassen. Zudem ist die Rede von wiederkehrenden Angriffen in Stadtteilen wie Al Madares, Al Jabal, Area 13 und Al Jamarik sowie von Scharfschützen, die auf Zivilisten auf der Suche nach Wasser oder Lebensmitteln zielen.
Niemand durfte rein oder raus. Die Menschen versuchten, in Wadis und natürlichen Wasserquellen an sauberes Wasser zu gelangen, aber die Sniper schossen auf sie. Zunächst leisteten die bewaffneten Gruppen der Masalit Widerstand, aber sie hielten nicht durch.
Andere Patient:innen sprechen von Gewalt aufgrund ethnischer Zugehörigkeit, die auf der Route in den Tschad, die von Checkpoints gesäumt ist, weitergeht.
Auf der Route in den Tschad wurden wir an vielen Checkpoints angehalten und gefragt, welchem Volk wir angehören. Sie hatten es auf die Masalit abgesehen. Ich gehöre zum Volk Al Fur und am Checkpoint kann man nicht lügen, sie wissen, wie die Masalit aussehen. Ich habe gesehen, wie sie zu den Masalit sagten, sie sollen aus ihren Autos aussteigen. Ich weiss nicht, was dann passiert ist, weil wir weitergefahren sind.
Mehrere Faktoren scheinen einen Grossteil der Masalit-Bevölkerung von El Geneina dazu veranlasst zu haben, Mitte Juni nach wochenlangen Auseinandersetzungen und Gewalt zu versuchen, in den Tschad zu fliehen: die Ermordung des Gouverneurs Khamis Abakar, die zunehmenden Drohungen sowie ein Versuch, sich einem Camp der sudanesischen Armee in Ardamatta im Osten der Stadt anzuschliessen, der in einem Blutbad geendet haben soll.
Die Route in den Tschad war der einzige Ausweg, aber extrem gefährlich. Die Patient:innen machten sich zu Fuss, in Gruppen oder an Bord von Fahrzeugen auf den Weg, nachdem sie den Fahrern viel Geld dafür bezahlt hatten. An den Checkpoints bestand stets das Risiko, ausgeraubt, angegriffen, vergewaltigt oder getötet zu werden und viele Patient:innen erzählen, dass bewaffnete Männer auf die Flüchtenden schossen. Die Stadt Shukri wurde in mehreren Berichten als eine der gefährlichsten Etappen der Route beschrieben.
Die Frauen und Kinder versammelten sich um vier Uhr morgens im Quartier von Al Jamarik. Unser Plan war es, gemeinsam Richtung Westen in den Tschad zu fliehen. Die Männer schlossen sich uns an – einige von ihnen hatten Waffen und Autos, um uns auf dem Weg zu verteidigen. Wir wurden angegriffen, als wir eine Stadt namens Shukri durchquerten. Die Einwohner töteten viele von uns. Ich verlor dabei viele Freunde. Sie wurden alle erschossen, es herrschte absolute Panik. Wenn man nicht dort starb, dann nur, weil man zufällig weiter weg war von den Schützen oder andere Personen vor einem die Kugeln abbekamen. Nur deswegen haben einige von uns überlebt.
Grosse humanitäre Krise
Zurzeit befinden sich noch etwa 200 Verletzte im Spital in Adré. Einige von ihnen werden noch lange medizinische Betreuung, insbesondere Physiotherapie, benötigen, um sich zu erholen. Um die Behandlungsmöglichkeiten und die Qualität der Pflege zu verbessern, habn unsere Teams Ende Juni ein aufblasbares Spital mit einem Sterilisations- und Röntgenraum sowie zwei Operationssälen in Betrieb genommen.
Zusammen mit den Verletzten kamen auch neue Geflüchtete aus El Geneina in Adré an. Nach Angaben des Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) erreichten in den letzten Wochen rund 130 000 Menschen die Stadt, vor allem Frauen und Kinder. Diese sprunghafte Bevölkerungszunahme führt in einem für die lokale Bevölkerung bereits schwierigen Umfeld zu grossen humanitären Bedürfnissen in allen Bereichen: medizinische Versorgung, Unterkünfte, Ernährungshilfe, Wasser und Hygiene.
Die Kinderstation war ursprünglich für die stationäre Behandlung von 35 bis 50 Kindern gedacht. Seit Ankunft der Geflüchteten versorgen wir dort im Moment 200 bis 250 Kinder. 80 Prozent leiden an schwerer akuter Mangelernährung mit Komplikationen. Die pädiatrische und ernährungsmedizinische Versorgung in den Gesundheitszentren und in den Camps muss ausgeweitet werden. Nur so können wir die Kinder angemessen und rechtzeitig versorgen.
Die Behörden und das UNHCR schätzen die Zahl der neuen sudanesischen Geflüchteten im Osten des Tschads Mitte Juli auf 260 000.
Es gibt immer mehr Durchgangscamps, neue Camps werden errichtet. So auch in Arkoum, wo unsere Teams medizinische Versorgung anbieten. Gleichzeitig halten sich bereits rund 400 000 sudanesische Geflüchtete, die in den letzten 20 Jahren aus ihrem Land geflohen sind, im Tschad auf. In einem Umfeld, das bereits von Ernährungsunsicherheit, mangelndem Zugang zu Wasser und medizinischer Versorgung geprägt ist, muss eine umfassende nachhaltige humanitäre Hilfe sichergestellt werden, um den Verletzlichsten, aus dem Tschad genauso wie Geflüchteten, beizustehen und auf die Schockwellen des Konflikts im Sudan zu reagieren.
© MSF/Mohammad Ghannam