Lesbos: 940 Schutzsuchende seit Juni 2022 verschwunden – Situation in den Camps katastrophal

Eine Betroffene vor dem CCAC Mavrovouni. Lesbos, September 2021.

Griechenland4 Min.

Seit die Teams von Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières im Juni 2022 mit der Versorgung von neu ankommenden Schutzsuchenden auf Lesbos begannen, sind 940 Menschen verschwunden. In den zwei Lagern auf der griechischen Insel, Mavrovouni und Megala Therma, beobachten unsere Teams eine Abschreckungspolitik und Verschlechterung der Situation von Menschen auf der Flucht, Asylbewerber:innen und Migrant:innen. Wir sind zutiefst besorgt über die zahlreichen Berichte über Gewalterfahrungen wie Entführungen und Pushbacks, Inhaftierungen und dem Entzug von Nahrung und Unterkunft.

Unsere Teams auf Lesbos werden vom Geflüchtetenhilfswerk UNHCR und anderen alarmiert, wenn Schutzsuchende auf Lesbos ankommen und dringend medizinische Behandlung benötigen.

Seit wir im Juni 2022 damit begonnen haben, medizinische Nothilfe zu leisten für Menschen, die mit dem Boot auf Lesbos ankommen, konnten wir etwa 940 Menschen nicht mehr auffinden.

Nihal Osman, Projektkoordinatorin auf Lesbos

Mehrere Patient:innen berichten, dass sie bei früheren Versuchen, Griechenland zu erreichen, gewaltsam abgefangen und aufs Meer zurückgedrängt worden sind. «Wenn wir alarmiert werden, dass Menschen neu ankommen und dringend medizinische Hilfe benötigen, verbringen wir oft Stunden, manchmal Tage damit, sie zu suchen. Oft verstecken sich die Menschen in den Wäldern», sagt Nihal Osman.

«Betroffene berichteten uns von Begegnungen mit maskierten Männern, die sich als Ärzte ausgaben um ihr Vertrauen zu gewinnen. Kürzlich wurde auch in der New York Times berichtet, dass die maskierten Männer sich sogar als Ärzte ohne Grenzen ausgaben. Wenn sich dies bestätigt, ist das eine inakzeptable und schwerwiegende Manipulation humanitärer Hilfe.» In einigen Fällen haben unsere Mitarbeiter:innen in der Umgebung der Einsatzorte Fahrzeuge ohne Kennzeichen gesehen, die oft von vermummten Personen gefahren wurden.

Grausame Abschreckungstaktik im grössten Camp Griechenlands

Schutzsuchende, die auf Lesbos ankommen, werden je nach Ankunftsort in zwei Zentren geschickt: Mavrovouni und Megala Therma. In Mavrovouni, einem von der EU finanzierten «Closed Controlled Access Centers» (CCAC), wurden 2023 rund 2700 Menschen untergebracht. CCACs wurden als Verbesserung der Lebensbedingungen von Schutzsuchenden vermarktet, schränken aber die Bewegungsfreiheit der Menschen stark ein und sind gefängnisähnliche Einrichtungen.

Am 17. Mai 2023 stellten die griechischen Behörden die Bereitstellung von Lebensmitteln für anerkannte Geflüchtete und Menschen, denen internationaler Schutz verweigert wird, ein und kündigten Pläne an, sie zu vertreiben. «Die Patient:innen klagen über die Demütigungen, die sie erleiden, wenn sie stundenlang in der Schlange stehen. Die Frustration sei gross, da sie weniger zu essen bekommen. Das Ministerium setzt eine Reduzierung der Lebensmittel als Druckmittel ein, um die Menschen zu zwingen, die Einrichtung zu verlassen», so Osman. Zudem werden Kindern von Familien, denen internationaler Schutz verweigert wurde, die Sozialversicherungsnummern entzogen, wodurch sie keinen Anspruch auf Grundimpfungen haben.

Auch in Megala Therma sind die Lebensbedingungen katastrophal. Die Menschen werden in überfüllten Camps untergebracht, die keine Betten haben – manchmal werden 14 Personen in eine Einheit mit Platz für fünf Personen gequetscht. «Alle – auch Kinder – werden zusammen untergebracht, unabhängig von ihrer Verletzlichkeit, ohne Rücksicht auf ihre Sicherheit», sagte Osman. Wir leisten hier seit 2020 medizinische Versorgung. Die Einrichtung, die früher ein staatliches COVID-19-Quarantänezentrum war, beherbergt nun Schutzsuchende, bevor sie nach Mavrovouni verlegt werden.

Die Menschen in Megala Therma sind nicht registriert und werden willkürlich tagelang, in einigen Fällen für mehr als zwei Wochen, festgehalten, bevor sie nach Mavrovouni überstellt werden.

Das Camp Megala Therma ist ein Sinnbild für den grausamen und dysfunktionalen Ansatz, der in diesen Camps verfolgt wird. Dies alles von den EU-Mitgliedstaaten unterstützt und von der Europäischen Kommission finanziert. Wir haben diese harte Politik ausgiebig kritisiert und angeprangert.

Nihal Osman, Projektkoordinatorin auf Lesbos

Megala Therma ist sehr isoliert, was es medizinischen Organisationen erheblich erschwert, die Einrichtung zu erreichen, um auf Notfälle zu reagieren. «Unsere Teams kommen zweimal pro Woche, aber wenn medizinische Notfälle an einem anderen Tag auftreten, ist niemand vor Ort, um diese zu versorgen. Ein Krankenwagen würde mehr als eine Stunde brauchen, um die Patient:innen zu erreichen», sagte Osman.

Wir fordern Konsequenzen

Wir fordern die griechischen Behörden dazu auf, den Berichten über Hunderte von vermissten Personen nachzugehen, von denen angenommen wird, dass sie gewaltsam ins Meer zurückgedrängt wurden. Ausserdem fordern wir sichere und menschliche Aufnahmebedingungen für diejenigen zu schaffen, die auf der Insel sind.

Wir appellieren an die griechischen Behörden und die Europäische Kommission:

  • Eine sofortige Untersuchung der Behauptungen einzuleiten, dass Menschen von nicht identifizierten maskierten Personen bedroht, entführt und misshandelt werden, die sich systematisch an Pushbacks beteiligen und Menschenleben an Land und auf See gefährden.
     
  • Die willkürliche Inhaftierung von nicht registrierten Neuankömmlingen in Megala Therma zu beenden und ihren unverzüglichen Zugang zu Registrierung, menschliche Aufnahmebedingungen und die Bereitstellung grundlegender Dienstleistungen zu gewährleisten.
     
  • Eine qualitative hochwertige, zeitnahe medizinische Versorgung zu gewährleisten, einschliesslich medizinischer Notfallversorgung in den Aufnahmezentren.

Der rechtliche Status von Menschen darf nicht dazu führen, dass diese von lebenswichtigen Dienstleistungen wie der Versorgung mit Nahrung und Unterkunft oder medizinischer Versorgung ausgeschlossen werden. Im Einklang mit der EU-Aufnahmerichtlinie muss allen Neuankömmlingen, die in Griechenland Schutz suchen, Zugang zu Gesundheitsversorgung, Schutz und humanitärer Hilfe gewährt werden.