Bahar Nemr: Vom Flüchtlingslager Domiz nach Dänemark
Syrien4 Min.
Fünf Jahre nach Ausbruch des Syrien-Konflikts veröffentlicht MSF persönliche Berichte von Syrerinnen und Syrern, die vor der Gewalt in ihrem Land geflohen sind. Sie alle lebten friedlich mit ihrer Familie, als der Bürgerkrieg sie überrumpelte und zwang, den Weg ins Exil anzutreten.
Ihre zitternde Stimme am Telefon verrät viel über ihr Leid. Bahar Nemr ist Syrerin. Seit sieben Monaten lebt sie in einem Flüchtlingslager in Dänemark. Vor Kurzem wurde ihr dort Asylrecht gewährt.
Davor hat Nemr während drei Jahren im Flüchtlingslager Domiz im Irak für Médecins Sans Frontières (MSF) im Bereich Gesundheitsvorsorge gearbeitet.
Die 36-Jährige kommt ursprünglich aus Damaskus in Syrien, wo sie einst als Buchhalterin in einem Privatunternehmen tätig war.
Alle Bedingungen waren gegeben, damit diese junge Kurdin in ihrem Land ein friedliches Leben hätte führen können: eine befriedigende Arbeit, eine liebevolle Familie und ein fürsorglicher Ehemann.
Doch dann begann 2011 in ihrem Land der Bürgerkrieg und aus ihren Zukunftsträumen wurden Alpträume.
«2012 habe ich meinen Mann verloren. Er starb an der Folge von Folterungen, gegen die er so oft demonstriert hat. Und mit einem Mal war das Leben viel schwerer zu ertragen», erzählt sie voller Trauer.
So beginnt die lange und beschwerliche Reise der Mutter eines 14-jährigen Mädchens und eines 11-jährigen Jungen.
Ende 2012 entscheidet sich Bahar, ihr gewaltsames Umfeld in Damaskus zu verlassen und ins Flüchtlingslager von Domiz zu fliehen. In Begleitung ihrer Kinder, ihrer Mutter und ihres Bruders verbringt sie dort drei Jahre und arbeitet für MSF.
Obwohl sie davon träumt, eines Tages in ihre Geburtsstadt zurückzukehren, sieht sich Bahar gezwungen, den Weg des Exils weiter zu beschreiten, der sie schliesslich bis nach Dänemark führt.
Die Gründe, das Lager zu verlassen, sind vielfältig: «Ich sah jeden Tag, wie Leute das Lager verliessen. Das Leben dort ist hart geworden. Keine Zukunft, weder für mich noch für meine Kinder. Ich konnte nicht einmal nach Dohuk gehen. Ich hatte keine Arbeit mehr und die Iraker behandeln die kurdischen Frauen nicht gut», erklärt sie.
«Mein Vater kam für die Reise auf»
So nimmt Bahar Nemr also Kurs auf Europa. Ihre Kinder und ihre Mutter lässt sie im Lager zurück. Sie überquert die irakische Grenze und gelangt zu Fuss in die Türkei. Die Reise dauert zwei Tage.
Sie bleibt 15 Tage in Istanbul. In dieser Zeit findet ihr Vater einen Schlepper, der sie nach Europa bringen soll. «Ich habe nichts bezahlt. Mein Vater kam für die Reise auf. Er wollte so sehr, dass ich in ein besseres Leben aufbreche und dass meine Familie später folgen kann.»
Eine lange und gefährliche Reise. «Wir sind vier Tage durchgefahren. Ich war allein mit dem Schlepper. Ich kannte ihn überhaupt nicht. Er hat mich in einer Art Holzkiste versteckt, die aussah wie ein Sarg. Ich lag mehr oder weniger ausgestreckt darin. Ich sah nichts von der Reise. Weder die Strasse, noch die Dörfer, durch die wir fuhren. Ich war wie eine Gefangene.» Sie fährt fort: «Wir haben nur in der Nacht angehalten, um unser Geschäft zu verrichten und frische Luft zu atmen. Ich habe nur Datteln gegessen und Wasser getrunken. Etwas anderes gab es nicht. Es war die Hölle. Ich dachte, ich würde eine solche Reise nie überleben. Aber ich hatte keine Wahl. Ich habe das für mein eigenes Wohl und das meiner Familie auf mich genommen.»
«Ich hatte Angst, nach Syrien zurückgeschickt zu werden»
Nachdem sie zahlreiche Länder Europas unter Risiken und Gefahren durchquert hat, wird Bahar schliesslich an der Grenze zwischen Österreich und Dänemark abgesetzt. Von dort aus nimmt sie gemeinsam mit zahlreichen anderen syrischen Flüchtlingen, die sie vor Ort getroffen hat, einen Bus in Richtung der ersten dänischen Stadt. Dort werden sie den lokalen Behörden übergeben. «In diesem Moment war ich gleichzeitig glücklich und nervös. Glücklich, weil ich andere Menschen getroffen habe, die genau wie ich aus Syrien und dem Irak geflohen sind. Aber nervös beim Gedanken, in den Händen der lokalen Polizei zu sein, die mich auf der Stelle hätte zurückschicken können.»
Nachdem die dänischen Polizisten ihre Ausweispapiere konfisziert und sie befragt haben, bringen sie die junge Syrerin in ein Flüchtlingslager, wo sie seit Juni 2015 lebt. Nach sieben Monate dauernden Gerichtsverfahren hat sie nun Asylrecht in Dänemark bekommen.
Dies ist jedoch nur eine halbe Erleichterung für die Kurdin, die nicht versteht, warum man ihr nicht gestattet, ihre beiden Kinder nach Dänemark zu holen. «Ich muss drei Jahre warten. So lange dauert es, um eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Es ist für mich aber schlicht unerträglich, diese ganze Zeit von meinen Kindern getrennt zu leben», schliesst sie.