Honduras: «Mir selbst Sorge zu tragen ist von unschätzbarem Wert»
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Für uns beschränkt sich der internationale Frauentag nicht auf den 8. März. Unsere Projekte für und mit Frauen und Mädchen liegen uns das ganze Jahr am Herzen. In San Pedro Sula, Honduras, haben Sexarbeitende nur beschränkten Zugang zu medizinischer und psychologischer Unterstützung. Schuld daran sind soziale Stigmatisierung und fehlende Angebote. Die Klinik von Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF) bietet ein umfassendes Behandlungsangebot in freundlicher Atmosphäre. Frauen lernen hier auch, dass sie einen positiven Einfluss auf ihre Gemeinschaft haben können.
Sich trauen, offen zu sprechen
Nadia, Sexarbeiterin in Honduras, hatte seit ihrer Kindheit mit zahlreichen Schwierigkeiten zu kämpfen, so auch mit Misshandlung und Süchten.
«Ich hatte den Bezug zur Realität verloren», erzählt sie. «Ich befand mich in einer chaotischen Welt, alles war durcheinandergeraten. Mein Körper, meine Gesundheit.» Möglichkeiten, Hilfe zu erhalten, gab es kaum.
Wie in vielen Regionen der Welt gibt es auch in Nadias Gemeinschaft Tabus, die sich nachteilig auf eine positive Einstellung der Frauen zu ihrer sexuellen Gesundheit auswirken. Nicht alle akzeptieren, dass eine Frau selbst wählen kann, wie sie ihr Leben leben will.
«In unserer Gesellschaft sollte eine Frau nur innerhalb der Ehe sexuell aktiv sein, und das ist manchmal nicht möglich», fährt Nadia fort. «Gerade junge Frauen werden manchmal stigmatisiert und haben oft keinen Zugang zu Prävention, wie zum Beispiel Verhütung. Wir sollten etwas realistischer sein.»
Laut Nadia können diese Stigmatisierung und die damit einhergehende Angst gefährliche Folgen haben. Traut sich eine Frau nicht zu sagen, was sie braucht, um sicheren Geschlechtsverkehr zu haben, oder schweigt sie angesichts eines defekten Kondoms, kann dies für sie schwere Konsequenzen nach sich ziehen.
Wir haben oft keine Gelegenheit, über unsere Sexualität oder über unsere Ängste zu sprechen. Die Leute suchen erst sehr spät Hilfe, im schlimmsten Fall sterben sie sogar deswegen.
Behandlung ohne Diskriminierung
Um die Sexarbeitenden und die LGBTQI+-Community in San Pedro Sula zu unterstützen, haben unsere Teams 2021 in dieser Stadt im Norden des Landes eine Klinik eröffnet.
«In dieser Klinik habe ich gelernt, dass man sich frei äussern darf. Es gibt Orte, wo man vom Personal nicht gleich behandelt wird. Sie versorgen dich medizinisch, teilen dir aber auch ihre Sichtweise mit und sagen, was du in deinem Leben tun oder lassen solltest», betont Nadia.
Ich bin deshalb sehr froh, dass ich diese Klinik gefunden habe. Hier gibt es alles: Infos über Prävention, Tests, Behandlung von HIV, Syphilis und sexuell übertragbaren Krankheiten, Familienplanung sowie psychologische und soziale Unterstützung.
«Ich habe realisiert, dass alles seinen Preis hat. Mir selbst Sorge zu tragen, ist für mich jedoch von unschätzbarem Wert. So begann ich, mehr darauf zu achten.»
Lernen, sich selbst Sorge zu tragen
Nadia setzt sich dafür ein, dass Mütter und Töchter über das nötige Wissen verfügen, damit sie in der Lage sind, die verschiedenen Gesundheitsdienste zu nutzen. Das hat ihr ihre eigene Erfahrung gezeigt.
Sie findet, dass Kinder ab einem gewissen Alter das Anrecht auf Sexualerziehung haben sollten. Mütter sollten ihren Töchtern ermöglichen, dass sie Verantwortung für ihren Körper übernehmen und sich selbst um ihre Bedürfnisse kümmern.
Ruth, eine andere Sexarbeiterin aus San Pedro Sula, glaubt ebenfalls an die Eigenverantwortung. Dazu gehört für sie, eine Apotheke aufzusuchen, wenn es einem schlecht geht, und Medikamente bei Bedarf korrekt einzunehmen.
Bei einer Klinik ist für sie entscheidend, dass man sich willkommen und akzeptiert fühlt. Unsere Teams für Gesundheitsförderung haben Ruth und andere Frauen in ihrem Quartier darauf aufmerksam gemacht, dass ihnen die Türen der Klinik offenstehen, dass die Medikamente kostenlos sind und auch Tests verfügbar sind. «Sie haben uns gesagt, wie man Krankheiten vorbeugen kann, wie man sich um die eigene Gesundheit kümmern kann. Das fand ich sehr hilfreich», erzählt Ruth.
Auch die psychische Gesundheit ist ein wichtiger Teil unseres Angebots. «Als ich die ersten paar Male in die Klinik kam, war ich ziemlich niedergeschlagen. Ich hatte das Gefühl, mein Leben habe keinen Sinn mehr. Ich habe deshalb mit einem Psychologen über meine nicht einfachen Erlebnisse gesprochen. Das hat mir sehr geholfen», sagt sie.
Den anderen Frauen, «diesen wundervollen Mädchen», möchte Ruth Folgendes mitgeben: «Schaut gut zu euch, macht regelmässig eure Tests, kommt in die Klinik und – am allerwichtigsten – schützt euch!
Und genau dazu ist die Klinik da: Um alle Frauen zu unterstützen, egal, ob sie deprimiert sind oder anderweitig Hilfe brauchen.»
Austausch zwischen den Generationen über sexuelles Wohlbefinden
Ruth und Nadia mussten beide in ihrem Leben zahlreiche Herausforderungen bewältigen. «Es gab eine Zeit, in der ich schlecht zu mir geschaut habe. Da habe ich sehr gelitten.
Dank meiner Therapie habe ich gelernt, dass es hier um mein Leben geht, dass ich dafür verantwortlich bin, dass dies mein Vermächtnis an meine Töchter sein wird.»
«Als Mutter wünsche ich mir, dass meine Töchter einmal in Weiss heiraten werden. Aber in meiner Familie finden wir es sehr wichtig, über Sexualität zu sprechen. Wir wollen die Dinge beim Namen nennen und nicht realitätsfremd sein.
«Sexualität ist etwas Schönes, etwas, das wir Menschen geniessen sollten. Aber um voll und ganz davon zu profitieren, muss man sich gut um sich kümmern.
Das weiss Nadia aus eigener Erfahrung nur zu gut und rät deshalb anderen Frauen: «Meine Lieben, informiert euch, schaut gut zu euch, damit ihr später kein Trauma, keine Komplexe oder Schuldgefühle habt.»
Ärzte ohne Grenzen hat die Klinik in San Pedro Sula im Juli 2021 eröffnet. Das Ziel war, Sexarbeitenden und der LGBTQI+-Community den Zugang zu Gesundheitsversorgung zu erleichtern. Das Angebot der im Stadtzentrum gelegenen Einrichtung umfasst medizinische und psychologische Leistungen, mit einem Fokus auf sexuelle und reproduktive Gesundheit. Betroffene von sexualisierter Gewalt werden vorrangig behandelt und erhalten eine umfassende Betreuung.