Jemen: Alarmierende Zunahme von Mangelernährung bei Kindern
© Jinane Saad/MSF
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Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF) macht auf eine alarmierende Zunahme von Mangelernährung bei Kindern im Jemen aufmerksam. Zwischen Januar und Oktober 2022 wurden in den Einrichtungen der Organisation fast 7600 mangelernährte Kinder behandelt, das entspricht einem Anstieg von 36 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Insbesondere bei Kindern unter fünf Jahren führt die zunehmende Mangelernährung zu vermeidbaren Todesfällen.
Üblicherweise treten im Jemen die meisten Fälle von Mangelernährung zwischen Juni und September auf. 2022 haben unsere Teams jedoch in mehreren Projekten schon im April oder Mai einen Beginn dieser Phase dokumentiert. Sie gehen davon aus, dass die hohen Fallzahlen bis Dezember anhalten werden. Teilweise sind die von uns unterstützten Einrichtungen überfordert. An einigen Orten haben unsere Teams daher Notfallmassnahmen eingeleitet, um auf die gestiegenen Fallzahlen und die die damit verbundenen gesundheitlichen Komplikationen wie Durchfall, Lungenentzündung und Anämie zu reagieren.
Im Folgenden haben wir die fünf wichtigsten Faktoren zusammengestellt, die aus unserer Sicht für den Anstieg der Mangelernährung bei Kindern im Jemen verantwortlich sind:
1. Teure Lebensmittel
Für viele Familien im Jemen sind ausreichende und nahrhafte Lebensmittel zu teuer. Die sich verschärfende Wirtschaftskrise hat die Preise für Lebensmittel und Transport in die Höhe schnellen lassen, viele Menschen haben keine bezahlte Arbeit. Viele Menschen haben ihr Zuhause im Krieg verloren, der inzwischen acht Jahre andauert.
2. Fehlender Zugang zu Gesundheitseinrichtungen
Das Gesundheitssystem im Jemen zerfällt immer weiter. Die begrenzten finanziellen Mittel der Gesundheitsbehörden, der Mangel an Vorräten und Ausrüstung sowie die ausbleibende oder unregelmässige Zahlung der Gehälter des medizinischen Personals haben zur Schliessung vieler öffentlicher Gesundheitseinrichtungen geführt. Zusammen mit den hohen Treibstoffkosten schränkt dies den Zugang der Menschen zu dringend benötigter medizinischer Versorgung erheblich ein.
Unsere Teams, die im Al-Salam-Khamer-Spital im Gouvernement Amran arbeiten, haben seit Ende Mai einen stetigen Anstieg der Zahl der Patient:innen mit schwerer akuter Mangelernährung festgestellt. Im September 2022 waren die Betten im stationären therapeutischen Ernährungszentrum zu 396 Prozent überbelegt. Gleichzeitig stieg die Zahl der Notfallkonsultationen um mehr als 20 Prozent. Zwischen Januar und September 2022 starben 31 Menschen mit schwerer akuter Mangelernährung nach der Einlieferung ins Spital.
3. Armut und instabile Lebensbedingungen
Schlechte Lebensbedingungen, insbesondere für Vertriebene, tragen ebenfalls zum Anstieg der Mangelernährung bei. Das Spital von Abs im Gouvernement Hadscha nimmt Menschen aus den umliegenden Gebieten von Abs auf, aus denen viele Binnenvertriebene ohne angemessene Unterkunft und mit begrenztem Zugang zu Nahrungsmitteln leben. «Die meisten der Vertriebenen haben kein regelmässiges Einkommen, weil sie kaum Arbeit finden», sagte Saddam Shayea, unser Gesundheitsberater im Spital von Abs. «Ein weiteres Problem ist der fehlende Zugang zu sauberem Wasser. Dadurch steigt beispielsweise die Zahl der Durchfallerkrankungen, und es fehlt an Hygienematerialien, die zur Verringerung des Risikos oder zur Eindämmung der Ausbreitung bestimmter Krankheiten unerlässlich sind.»
4. Mängel in der Versorgung von Schwangeren
Der Zugang zu Gesundheitsförderung in der Versorgung von Schwangeren und der postnatalen Versorgung im Jemen ist mangelhaft. Im Abs-Spital beispielsweise litten im Jahr 2022 mehr als 50 Prozent der Mütter in der Entbindungsstation an Mangelernährung. Nur ein Bruchteil der Frauen, die hier entbunden haben, hat zuvor eine Vorsorgeuntersuchung wahrgenommen – 2021 waren es zehn Prozent. Bei Vorsorgeuntersuchungen kann Mangelernährung erkannt und damit die Risiken verringert werden. Zudem ist das Bewusstsein der Menschen für die Bedeutung des Stillens und der Routineimpfungen für Kinder begrenzt.
5. Lücken in der humanitären Hilfe
In diesem Jahr haben Mittelkürzungen dazu geführt, dass basismedizinische Einrichtungen ihre Dienste einstellen mussten oder nicht genügend Medikamente zur Verfügung haben.
«Ich habe vier Kinder, die alle an Mangelernährung litten», sagt Ahmed Abu Al Ghaith, ein Vater, der seine einjährige Tochter in das Ad Dahi Spital brachte. «Ich habe die Kinder in das nächstgelegene Behandlungszentrum für Mangelernährung in der Region gebracht. Aber sie mussten wählen, welches meiner Kinder mit therapeutischer Nahrung versorgt wird, da es nicht genug davon gab.»
Neben dem Wegfall einiger Gesundheitsprogramme haben Lücken in Programmen für Ernährungs- und Nahrungsmittelhilfe sowie eine unzureichende Wasser-, Sanitär- und Hygieneversorgung das Risiko von Mangelernährung und damit zusammenhängenden Komplikationen erhöht, die bei durch Wasser übertragenen Krankheiten grösser sind.
Reaktion auf die steigende Zahl von Patienten mit Mangelernährung
Ärzte ohne Grenzen arbeitet im Jemen in 13 Gouvernements. Um die steigende Zahl der Fälle von Mangelernährung zu bewältigen und die Morbidität und Mortalität der am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu senken, erweitern unsere Teams ihre Kapazitäten.
Die Gesundheitsbehörden und die Akteure der humanitären Hilfe und des Gesundheitswesens müssen umfassende Massnahmen ergreifen, um den Umfang und die Effizienz der Ernährungsüberwachung im ganzen Land zu verbessern. Darüber hinaus müssen die Lücken in den Einrichtungen der medizinischen Grundversorgung geschlossen werden, um einen raschen Zugang zur Versorgung zu gewährleisten und das Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung zu stärken, damit Anzeichen von Mangelernährung frühzeitig erkannt werden können. Zu den Massnahmen sollten auch verstärkte Impfkampagnen im ganzen Land gehören, insbesondere für Kinder unter fünf Jahren, die nach wie vor am stärksten gefährdet sind.
© Jinane Saad/MSF