Jemen: «Cholera – ein Weckruf in einer vergessenen Krise»
Jemen3 Min.
Ruth Conde war zwischen Februar und Juni 2017 als Leiterin des Pflegedienstes für MSF am Spital von Abs im Einsatz. Die Provinz Abs in Nordjemen ist am stärksten vom Cholera-Ausbruch betroffen.
«Ich erinnere mich besonders an einen Tag: Ich bereitete gerade orale Rehydratationslösungen vor, als plötzlich sehr viele Patientinnen und Patienten zu uns kamen. Unter ihnen war ein 16-jähriges Mädchen im Schockzustand. Als sie ankam, kollabierte sie und hörte auf zu atmen. Wir schlossen sie an ein Beatmungsgerät an und führten ihr Flüssigkeit zu. Kurz danach begann sie wieder von selbst zu atmen. Am nächsten Morgen kam sie schon wieder allein zurecht. Das war eine beeindruckende Genesung.
Glücklicherweise war dies die Regel. Unsere Teams arbeiteten rund um die Uhr. Fast 99 Prozent all unserer Patientinnen und Patienten überlebten. Ohne eine zügige und angemessene Behandlung sterben bis zu 50 Prozent aller Erkrankten an Cholera. Egal ob männlich oder weiblich, alt oder jung – eine schnelle und gute Behandlung wirkt geradezu magisch. Selbst schwer kranke Patientinnen und Patienten bleiben nicht länger als vier Tage im Behandlungszentrum. Manche können wir nach wenigen Stunden wieder entlassen, wenn sie früh genug zu uns kommen und noch in der Lage sind, selbst zu trinken.
Im Mai explodierten die Fälle in Abs
Man möchte sich gar nicht vorstellen, was mit dem jungen Mädchen passiert wäre, wenn wir nicht hier gewesen wären, um ihr zu helfen. Oder wenn sie fünf Minuten später in unser Behandlungszentrum gekommen wäre.
Im Mai explodierten die Zahlen in Abs. Täglich kamen 20 bis 30 Patientinnen und Patienten zu uns, auch aus weiter entfernten Gegenden. Wir fürchteten, dass die Situation ausser Kontrolle geraten könnte und verstärkten unsere Aktivitäten. In einer nahegelegenen Schule richteten wir ein zusätzliches Cholera-Behandlungszentrum ein. Dort verfügen wir zurzeit über 100 Betten und arbeiten mit 100 zusätzlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. In der Region um Abs, im Nordwesten des Landes, hat sich die Krankheit am stärksten ausgebreitet. Mehr als 1’600 Menschen sind im ganzen Land bereits an Cholera gestorben, 269’000 Menschen sind erkrankt. Ende Juni kamen pro Tag rund 400 neue Patienten mit Verdacht auf Cholera zu uns.
Mehr internationale Hilfe dringend nötig
Die Menschen in Abs und im gesamten Jemen benötigen dringend mehr internationale Hilfe. Zudem sollten sich die Hilfsorganisationen untereinander besser abstimmen. Für Zehntausende Menschen ist es ein Wettlauf gegen die Zeit. Dieser Cholera-Ausbruch ist wie ein Weckruf in einer vergessenen Krise, die auch dann noch andauern wird, wenn der letzte Cholera-Patient behandelt ist. Das Gesundheitssystem in Abs ist nach mehr als zwei Kriegsjahren weitgehend zusammengebrochen. Viele Menschen sind vor den Kämpfen geflohen, es fehlt an sauberem Trinkwasser und an Nahrung. Dies sind alles Voraussetzung für eine schnelle Ausbreitung von Cholera.
Masern, Keuchhusten, Malaria, sehr viele Kriegsverletze und dann: Cholera
Am Anfang trat Cholera in Abs sporadisch auf. Dennoch war uns klar, dass wir schnell handeln mussten. Wir unternahmen Erkundungen und etablierten Netzwerke in der Region. Wir gaben medizinisches Material ab und schulten die Mitarbeitenden der Gesundheitseinrichtungen in der Region. So wollten wir sicherstellen, dass zumindest leichte Fälle in abgelegenen Gebieten behandelt werden konnten.
Ich erinnere mich an die ratlosen Blicke meiner Kolleginnen und Kollegen im Spital in Abs, als der erste positive Cholera-Test zurückkam. Wir waren da bereits mit Arbeit überlastet. Es gab Ausbrüche von Masern und Keuchhusten und die Zahl der Malaria-Erkrankungen hatte einen Höchststand erreicht. Darüber hinaus behandelten wir sehr viele Menschen mit Kriegsverletzungen. Ein Cholera-Ausbruch war das letzte, was wir brauchen konnten.»
MSF begann im Juli 2015, das Spital von Abs zu unterstützen. Am 15. August 2016 wurde das Spital aus der Luft angegriffen, wobei 19 Menschen, darunter ein MSF-Mitarbeiter, getötet und 24 weitere verletzt wurden. Daraufhin musste MSF ihr Personal aus verschiedenen Gesundheitseinrichtungen des Landes zurückziehen. Im November desselben Jahres kehrte MSF mit 200 nationalen und 12 internationalen Mitarbeitenden ins Spital von Abs zurück. MSF betreibt die Notaufnahme, die Kinder- und die Geburtsstation, das Ernährungszentrum sowie mobile Kliniken und bietet psychosoziale Betreuung an.