Kenia hat die Chance, beim Umgang mit Flüchtlingen mit gutem Beispiel voranzugehen
Kenia4 Min.
Man kann nicht Hunderttausende Menschen für die Taten einiger weniger bestrafen.
Am 6. Mai kündigte die kenianische Regierung eine Entscheidung an, welche das Leben von Hunderttausenden von Menschen bedroht. Ihr Vorhaben, die Flüchtlingslager von Dadaab zu schliessen, hätte für rund 325'000 Flüchtlinge verheerende unmittelbare und langfristige Folgen.
Der Staatssekretär im kenianischen Innenministerium, Dr. Karanja Kibicho, äusserte öffentlich seine Besorgnis über die schwache Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf die globale Flüchtlingskrise. Médecins Sans Frontières / Ärzte ohne Grenzen (MSF) teilt diese Sorge vorbehaltlos und hält diese Reaktion für erschreckend unangemessen.
Wir teilen die Auffassung, dass «die anhaltende Doppelmoral» vieler westlicher Staaten inakzeptabel ist. Während diese Staaten den Menschen, die vor Krieg, Unterdrückung und Verzweiflung fliehen, den Rücken kehren, erwarten sie gleichzeitig von Staaten wie Kenia, dass sie Hunderttausenden Flüchtlingen aus Somalia, dem Südsudan und anderen Krisenregionen Zuflucht gewähren. Am deutlichsten zeigt sich diese Doppelmoral in der Unterzeichnung des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei, wo Europa die Betreuung der Flüchtlinge an ein Land abgibt, welches ihnen das Recht auf ein Asylverfahren verweigern könnte.
Die Regierung von Kenia und das kenianische Volk haben in den Flüchtlingslagern von Dadaab während eines Vierteljahrhunderts Tausenden von Menschen Zuflucht gewährt – eine Tatsache, auf die Kenia zu Recht stolz sein darf. Anstatt die missglückte und unmenschliche Politik der EU und anderer Staaten zu übernehmen, sollte Kenia jetzt mehr denn je zu seiner humanitären Tradition stehen und den Kriegsvertriebenen Schutz gewähren. Kenia kann eine Führungsrolle übernehmen und mit gutem Beispiel vorangehen, indem es anderen Staaten – einschliesslich der westlichen Welt – vor Augen führt, wie man Kriegsflüchtlinge auf humane Weise behandelt.
Die Regierung vertritt den Standpunkt, dass Dadaab ein Sicherheitsrisiko darstellt. Die medizinischen Einsatzteams von MSF konnten sich selbst ein Bild von den Folgen der Terrorakte in Kenia machen. Im April 2015 leisteten unsere Ärzteteams gemeinsam mit den Mitarbeitenden des Gesundheitsministeriums Hilfe für die Opfer des entsetzlichen Angriffs auf die Universität in Garissa. Die kenianische Regierung hat zweifellos eine Verantwortung für den Schutz und die Sicherheit der eigenen Bevölkerung. Doch gemäss den auch von Kenia unterzeichneten Flüchtlingskonventionen schliesst diese Verantwortung auch jene Menschen mit ein, die vor Kriegen und Konflikten fliehen mussten oder noch fliehen müssen.
Es ist inakzeptabel, die 325'000 Flüchtlinge in Dadaab für die Taten einiger weniger zu bestrafen. Der Bürgerkrieg in Somalia dauert nun schon seit über 25 Jahren an, und die Bedingungen für eine sichere und menschenwürdige Rückkehr der Flüchtlinge sind heute ganz einfach nicht gegeben. Das 2013 unterzeichnete Drei-Parteien-Abkommen über die freiwillige Rückkehr war damals als ein positiver Schritt begrüsst worden, seine Umsetzung war jedoch begrenzt – hauptsächlich aufgrund der prekären Sicherheitslage in Somalia.
Die Flüchtlingslager von Dadaab waren nie dafür ausgelegt, eine so grosse Zahl von Menschen aufzunehmen; entsprechend überfüllt und unterfinanziert sind die Camps heute. Ihre Nähe zur somalischen Grenze macht die Lager für die Sicherheitsrisiken anfällig, die von Somalia ausgehen. Trotz wiederholten Aufrufen wurden mögliche Alternativen zu den Massenlagern nicht weiterverfolgt, und heute bezahlen die Flüchtlinge in Dadaab den Preis für diese Unterlassungen.
Es fehlt ganz offensichtlich der politische Wille, eine Lösung zu finden. Viel zu wenige Flüchtlinge haben die Möglichkeit erhalten, in andere Länder überzusiedeln. Die Lager selbst sind zu gross, doch die Alternative, kleinere Camps an sichereren Standorten mit besserer Versorgung einzurichten, wurde nicht geprüft. Für die Flüchtlinge gibt es kaum Möglichkeiten, eine eigenständige Existenz aufzubauen und sich in das Leben ausserhalb der Lager zu integrieren. Diese Optionen setzen finanzielle Mittel und politisches Engagement voraus. Doch wenn es nicht gelingt, entsprechende Projekte mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft zu verwirklichen, haben die Flüchtlinge von Dadaab keine andere Wahl, als ins vom Krieg erschütterte Somalia zurückzukehren oder die gefährliche Reise nach Norden über das Mittelmeer anzutreten, um in Europa Zuflucht zu suchen.
In den letzten 25 Jahren hat Kenia bei der Aufnahme von Flüchtlingen eine führende Rolle gespielt. Wenn die kenianische Regierung ihre Entscheidung über die Schliessung der Lager nochmals überdenkt, hat sie eine reale Chance, mit gutem Beispiel voranzugehen und der übrigen Welt zu zeigen, wie eine humane Flüchtlingspolitik aussieht, indem sie jenen Menschen Schutz gewährt, die sonst nirgends Zuflucht finden.
Kenneth Lavelle; Programm-Manager die Einsätze von MSF in Dadaab.
Liesbeth Aelbrecht; MSF-Einsatzleiterin in Kenia
MSF führt ihre medizinischen Aktivitäten im Flüchtlingslager Dagahaley, Dadaab, weiter und betreibt ein Spital mit 100 Betten sowie zwei Gesundheitsstationen. 2015 haben die Teams 182'351 ambulante Sprechstunden abgehalten und 11'560 stationäre Patienten im Spital betreut.
MSF erhält für ihre Tätigkeit in Dadaab keine finanzielle Unterstützung seitens der Regierung. Alle Aktivitäten werden durch private Spenden finanziert.