Nordwest-Syrien: Bericht von Aisha, eine unserer Hebammen in Azaz

Spital im Norden des Gouverement Aleppo. Syrien. 14. Februar 2023.

Syrien5 Min.

Aisha ist Hebamme und lebt in Azaz im Norden Syriens. Sie ist Teamleiterin für Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF) und hat uns von ihren Erlebnissen berichtet. Sie hat die Erdbeben hautnah miterlebt und war sofort da, um den Verletzten zu helfen.

Apokalyptische Szenen

Als sich das Erdbeben um 4:17 Uhr ereignete, schliefen meine Familie und ich noch. Wir spürten, wie das Gebäude über uns wackelte. Wir wohnen in einem fünfstöckigen Gebäude - wir spürten, wie es über unseren Köpfen bebte.
Zuerst wussten wir nicht, was los war, aber nach etwa 10 Sekunden wurde uns klar, dass es ein Erdbeben war. Ich schrie meinen Mann an, unsere zweijährige Tochter Lareen zu holen. Er hielt sie dicht an sich gedrückt. Unsere beiden anderen Kinder waren in ihren Schlafzimmern. Ich rannte los, um sie zu wecken. Wir machten uns auf den Weg auf die Strasse, ohne zu wissen, was los war.

Meine Nachbarin hat geschrien. Sie ist Mutter von zwei Kindern, und ihr Mann war nicht da. Mein Mann nahm ihren Sohn auf den Arm, und wir halfen ihr, hinaus zu gelangen.
Unsere Nachbarn in den oberen Stockwerken warfen ihre Kinder hinunter, damit wir sie auffangen konnten. Jeder warf seine Kinder aus dem Gebäude. Wir fingen sie auf. Draussen sahen wir uns völlig schockiert um. Unsere Tränen waren mit Blut vermischt. Wir haben nicht verstanden, was da passiert ist.

Sich selbst in Sicherheit bringen und helfen

Mir wurde klar, dass ich Menschen retten musste. Einige Menschen waren in ihren Häusern geblieben, bei anderen hätten die Häuser über ihren Köpfen zusammenbrechen können. Ich rannte auf die Strasse, barfuss. Mein Mann schrie mich an, ich solle zurückkommen: «Aisha, wo gehst du hin? Komm zurück!»

] Ich weigerte mich. Ich konnte nicht nichts tun, wenn so viele Menschen Hilfe brauchten. «Vielleicht sind noch Menschen unter den Trümmern gefangen. Ich bin Sanitäterin, also muss ich helfen», rief ich zurück.

Aisha

Ich lief durch die Strassen unseres Viertels, bis ich sicher war, dass hier kein Gebäude eingestürzt war. Dann kam ich zurück und nahm meine Kinder in den Arm. Den Rest der Nacht verbrachten wir mit unseren Nachbarn im Hof und es regnete. Wir hatten alle schreckliche Angst. Als Mutter wollte ich einfach nur für meine Kinder da sein, zumal mein ältester Sohn bei der Bombardierung von Aleppo getötet wurde. Das erste, was mir in den Sinn kam, war, meine Kinder zu schützen und sie an einen sicheren Ort zu bringen. Aber ich konnte nicht lange bei meinen Kindern bleiben. Ich musste weg und helfen. Die Spitäler riefen Menschen mit medizinischen Berufen dazu auf, sie zu unterstützen. Die Menschen, die aus den Trümmern gerettet wurden, kamen in die Spitäler, die bald überlastet waren.

Meine Kinder ermutigten mich, zu gehen. Mein Sohn sagte: «Mama - geh und hilf den Menschen. Bleib nicht hier!» Das gab mir die Kraft, meine Kinder zurückzulassen und zu gehen.

Aisha

Ich stieg ins Auto und schloss mich den Freiwilligen im Spital an, das am dringendsten Sanitäter:innen benötigte. Ich erreichte die Notaufnahme und begann zu arbeiten. Ich war in engem Kontakt mit den Teams von Ärzte ohne Grenzen in der Region und ihrer medizinischen Beraterin. Sie fragte, was wir an Medikamenten, chirurgischem und medizinischem Material benötigten.

Nachbeben: «Die Verletzten eilten aus dem Spital.»

Um 13:24 Uhr spürten wir das massive Nachbeben. Das Spitalgebäude besteht aus Metallplatten und hätte jeden Moment einstürzen können. Die Verletzten eilten aus dem Spital. Mütter, Kinder - alle rannten um ihr Leben. Ich sah, wie einer schwangeren Frau, die kurz vor der Entbindung stand, aus dem Gebäude geholfen wurde.
Es war sehr beängstigend. Wir haben mehr als 50 Verletzte aufgenommen, die aus allen Regionen ins Spital kamen. Alle vier Operationssäle waren voll besetzt. Die Räume waren blutverschmiert. Die Chirurgen führten Osteotomien (Knochendurchtrennungen) und Laparoskopien (Bauchoperationen) durch. Es herrschte ein enormer Mangel an medizinischem Material, und die Chirurg:innen konnten nicht alle erforderlichen Osteotomien durchführen - sie mussten die Patient:innen zur Operation an andere Krankenhäuser überweisen.

Immer mehr Tote – die Menschen standen unter Schock

Es gab auch viel zu wenig Särge und Leichensäcke. Die Zahl der Toten war enorm: Frauen, Kinder, alte Menschen…
Ein Mann hatte gesehen, wie die Leichen seiner Frau, seiner Kinder und seiner Eltern unter den Trümmern hervorgeholt wurden. Er konnte es nicht fassen und stand unter Schock. Er konnte einfach nicht begreifen, dass seine ganze Familie unter den Trümmern begraben worden war. Jede halbe Stunde kam ein weiteres Mitglied seiner Familie zu uns: sein Sohn, sein Vater, dann seine Brüder. Er hat mehr als 13 Familienmitglieder verloren. Und er war nicht der Einzige.

Wir versuchten, den Schmerz der Kinder so gut wie möglich zu lindern. Wir brachten sie in die Säuglingsstation, um sie von all dem Blut und dem harten Anblick des Spitals fernzuhalten. Das war alles, was wir tun konnten.

Um Mitternacht wurde ein Orthopäde angefordert, um den Fuss eines Mädchens zu amputieren, das unter den Trümmern eingeklemmt gewesen war. Für die Amputation wurden ein Arzt und ein Narkosespezialist benötigt. Zusammen mit anderen Sanitäter:innen machten sie sich um 4 Uhr morgens auf den Weg zu dem Ort, um den Fuss des Mädchens zu amputieren und es aus den Trümmern zu retten. Das Mädchen weinte: „Macht euch keine Sorgen um meinen Fuss, rettet mich ohne meinen Fuss - holt mich einfach hier raus. Es ist dunkel und ich habe Angst!
Die Szene war entsetzlich. Es fühlte sich wie der Weltuntergang an.

Wir danken Aisha und allen Helfer:innen vor Ort, für ihren unermüdlichen Einsatz.