Syrien: «Die Spitäler waren voll mit Verletzten und Toten.»

MSF-Mitarbeitende bringen Hilfsüger in das Spital von Atme. Syrien, 11. Februar 2023.

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Nach jüngsten Schätzungen sind bei den Erdbeben in der Türkei und Syrien über 35 000 Menschen ums Leben gekommen. Am 6. Februar lancierten die Teams von Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF) Notfallmassnahmen im Nordwesten Syriens. Ziel: Mithilfe der 500 im Land tätigen Mitarbeitenden die Spitäler und die Bevölkerung mit medizinischer und materieller Hilfe unterstützen. Unser Spital in Atme, das normalerweise auf die Behandlung von schweren Verbrennungen spezialisiert ist, stellte medizinisches und nicht-medizinisches Material zur Verfügung und sendete seine Chirurg:innen als Verstärkung in mehrere Spitäler der Region. Insgesamt spenden wir an 30 Spitäler der Region.

«Am 6. Februar realisierten wir rasch, wie katastrophal die Lage war», erklärt Mohammad Darwish, stellvertretender Leiter des Spitals in Atme. «Die Zerstörungen in der Region waren massiv. Knapp drei Stunden nach dem ersten Beben haben wir unsere Notfallmassnahmen eingeleitet und unser Personal in Einsatzbereitschaft versetzt.»

Entscheidende erste Hilfe

Unsere Teams in Atme sendeten medizinisches Material an rund zehn Spitäler der Region, zum Beispiel nach Bab al-Hawa, Darat Izza, Idlib oder Atarib. «Alle Spitäler sind völlig überlastet, unseres auch», erklärt Samih Kaddour, Leiter des Spitals von Aqrabat, das auf orthopädische und wiederherstellende Chirurgie spezialisiert ist. «Die Teams von Ärzte ohne Grenzen waren die ersten, die uns geholfen und ihre Ressourcen mit uns geteilt haben. Zum Beispiel medizinisches Material für Verbände und die Sterilisation von Wunden. 800 Verletzte wurden in unsere Notaufnahme eingeliefert, davon benötigten 250 eine chirurgische Behandlung. Bis heute (11. Februar) kommen täglich neue Verwundete hinzu.»

Mobile medizinische Teams für umgehende Hilfe

Wir schickten unsere Chirurg:innen auch in Gesundheitseinrichtungen der Region, um ihren Kolleg:innen bei der Versorgung der vielen Verletzten zu helfen. «Ich war in einem Spital direkt an der Grenze zur Türkei im Einsatz», erklärt Dr. Mohammad Zaitoun. «Die Grenze war geschlossen und wir konnten keine Unterstützung von aussen erwarten oder die Verletzten verlegen. Das setzte uns unter grossen Druck. Es gab sehr viele Verwundete und das medizinische Personal war erschöpft. Mit den Teams von Ärzte ohne Grenzen aus Atme taten wir, was wir konnten.»

Als Chirurg arbeitete ich im OP. So viele Verletzte auf einmal haben wir hier noch nicht erlebt, ausser vielleicht bei Bombardierungen oder Massakern, die in der Region stattgefunden haben.

Dr. Mohammad Zaitoun
Ärzte operieren im Spital von Atme. Nordwesten von Syrien. 11. Februar 2023.

Syrische Ärzte operieren einen Patienten im Spital von Atme. Die Ausstattung des Operationssaals ist eine Spende unserer Teams in Atme. Nordwesten von Syrien. 11. Februar 2023.

© Abdul Majeed Al Qareh

Auch die Krankenwagen des Spitals in Atme wurden genutzt, um Patient:innen in andere Spitäler zu bringen. Unsere mobilen Kliniken wurden in Gebiete geschickt, wo Verletzte auf Hilfe warteten. Die mobilen Einsatzteams sind seit mehreren Jahren regelmässig in der Region tätig und bieten den Menschen in den zahlreichen Vertriebenenlagern eine medizinische Versorgung an. Derzeit sind sie täglich in Sarmada, Kammouneh oder ad-Dana im Einsatz, um die Menschen zu behandeln, die ihr Zuhause verloren haben.

Wir hatten keinen guten Überblick über die Lage in der direkten Umgebung von Atme. Wir wussten nur, dass die Spitäler überfüllt waren. Und dass der Hilfsbedarf riesig war.

Mohammad Darwish, stellvertretender Spitalleiter in Atme

«Den Betroffenen fehlt es derzeit an allem», fährt Mohammad Darwish fort. «Wir haben sofort Hunderte grundlegende Hilfsgüter aus unseren Logistiklagern verteilt, aber das reicht nicht.» In den ersten Tagen wurden unter anderem 2500 Decken an Patient:innen in Spitälern und hunderte Kits mit grundlegenden Hilfsgütern an Familien verteilt.

Weitere Unterstützung wird durch politische Spannungen gebremst

Unsere Teams vor Ort greifen derzeit auf ihre Notvorratslager zurück und warten auf internationale Lieferungen, die durch die politischen Spannungen rund um diese eingeschlossene Region erschwert werden. Bis zu den Erdbeben war Bab al-Hawa der einzige Ort, an dem humanitäre Hilfe aus der Türkei in diese Region im Nordwesten Syriens gelangte.

«Rund eine Woche nach den Erdbeben haben wir immer noch keinerlei Hilfe von aussen erhalten», bedauert Moheeb Kaddour, Leiter eines Spitals in Atme und Bruder von Samih Kaddour. «Lediglich andere Spitäler, die Menschen vor Ort oder Organisationen, die bereits vor der Katastrophe hier waren, unterstützten uns. Das Spital von Ärzte ohne Grenzen in Atme hat da eine wichtige Rolle gespielt.» Aber diese Flexibilität, die auf einer regelmässigen Unterstützung durch ein Netz von rund zwanzig Gesundheitseinrichtungen beruht, stösst nun an seine Grenzen. So können Patient:innen in ernstem Zustand nicht in die Türkei verlegt werden.

«Normalerweise können wir schwer verbrannte Patienten in entsprechende Gesundheitseinrichtungen in der Türkei verlegen», erklärt Mohammad Darwish. «Unser Spital in Atme leistet grundlegende Gesundheitsversorgung, gerät aber auch an seine Grenzen und kann nur moderate Verbrennungen angemessen behandeln.»

Derzeit gibt es im Gouvernement Idlib kein einziges freies Bett mehr in einem spezialisierten Spital, und wir können die Grenze nicht überqueren.

Mohammad Darwish, stellvertretender Spitalleiter in Atme

Im Nordwesten Syriens habe die Erdbeben eine Region getroffen, in der bereits 2 Millionen Vertriebene in Camps leben, wo sie kaum Zugang zu Gesundheitsversorgung haben. «Neun Tage nach den Erdbeben sind wir immer noch mit der Behandlung der Betroffenen beschäftigt», so Moheeb Kaddour. «Wir führen weiterhin Operationen durch, um Menschen zu retten, die unter dem Crush-Syndrom leiden. Das ist ein Krankheitsbild, das durch eine ausgedehnte Kompression der Muskeln verursacht wird und aufgrund darauffolgendem Nierenversagen tödlich verlaufen kann. Die aktuelle Situation ist unbeschreiblich, wir stehen allein da.»