Umgebung von Cherson: «Bevölkerung hatte seit Monaten keinen Arzt mehr gesehen»

Sprechstunde in der Nähe von Cherson. 28. November 2022, Ukraine.

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Im Südosten der Ukraine bieten die Teams von Ärzte ohne Grenzen der Bevölkerung in von der Ukraine zurückeroberten Gebieten Unterstützung an. Das Dorf Myroliubivka befindet sich rund zwanzig Kilometer nordwestlich von Cherson. Bevor Ärzte ohne Grenzen hierherkam, hatte die Bevölkerung seit Monaten keine Ärzt:innen mehr gesehen. Unser Projektkoordinator Robin Ehret berichtet.

Freiwillige betreibt Gesundheitseinrichtung im Alleingang

Unser erster Besuch fand am 26. November statt. Zunächst sprachen wir beim Gemeinderat vor und erklärten, was wir anbieten konnten. Rasch stellten wir fest, dass es kein medizinisches Personal mehr vor Ort gab und der Arzt den Ort schon vor langem verlassen hatte. Acht Monate lang hatten die rund 700 Bewohner:innen praktisch keinen Zugang zu medizinischer Versorgung.

Eine Freiwillige hatte die kleine Gesundheitseinrichtung im Dorf so gut sie konnte weitergeführt. Basierend auf Rezepten, die der Arzt vor seinem Weggang ausgestellt hatte, gab sie Medikamente ab. Es ist beeindruckend, wie sie das all die Monate ganz allein geschafft hat. Doch die Menschen hatten seit Monaten keine ärztliche Fachperson mehr gesehen. Wir organisierten daher umgehend eine mobile Klinik , und die Freiwillige half uns, indem sie die Bevölkerung über den Besuch unseres Teams informierte.

Als wir zwei Tage später mit einem Arzt, einer Pflegefachfrau und einer Psychologin zurückkamen, erwarteten uns rund dreissig Personen. Es handelte sich vor allem um Menschen mit chronischen Krankheiten wie Bluthochdruck oder Diabetes. Es gibt keine Ambulanz in Myroliubivka. Um eine Überweisung ins Spital müssen sich die Bewohner:innen selbst kümmern. Bei einem Notfall muss man also zuerst ein Auto auftreiben, um irgendwie nach Cherson zu gelangen. Das ist aber alles andere als einfach, da die Stadt seit einer Woche praktisch unter Dauerbeschuss ist.


Psychologische Betreuung für traumatisierte Menschen 

Auch unsere Psychologin hielt Sprechstunden ab. Vor allem Menschen, die im Zusammenhang mit dem Krieg traumatisiert sind, suchten ihre Hilfe. Die Bewohner:innen haben Luftangriffe miterlebt, einige haben eine nahestehende Person verloren. Wir haben zwei Kinder untersucht, die acht Monate in einem Keller verbracht hatten. Die Menschen erzählen uns auch, wie sie diese Zeit durchgestanden haben. Aber noch fällt es ihnen schwer, über das Erlebte zu sprechen.


Mehrere Dörfer wegen Minen nicht zugänglich 

Die Front verläuft etwa zwanzig Kilometer entfernt und Myroliubivka wird aktuell nicht beschossen. Dennoch waren während der Sprechstunden Explosionen im Zusammenhang mit der Minenräumung zu hören. Wir wissen, dass zwei Dörfer in der Umgebung komplett abgeschnitten sind: Es gibt keine Internetverbindung und die Strassen sind vermint, wie an vielen Orten in dieser Region. Wir konnten die Dörfer nicht erreichen, wissen aber, dass sich dort mehrere hundert Personen aufhalten, die die Ortschaften nur zu Fuss verlassen können. Über den medizinischen Bedarf vor Ort können wir nur spekulieren. Wir verfolgen nun die Aufräumarbeiten aus nächster Nähe und werden in die Dörfer fahren, sobald dies möglich ist.