Zugang zu Covid-19-Behandlungen und -Impfungen für alle: Offener Brief an den Bundesrat

Die Illustration zeigt eine Uhr in der Mitte und viele Medikamente, welche um die Uhr herumfliegen.

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Am 19. Januar traf sich der Rat für TRIPS (Trade-related Aspects of Intellectual Property Rights) zu einem weiteren informellen Treffen, um den Vorschlag für eine Ausnahmeregelung für alle Arzneimittel im Zusammenhang mit Covid-19 zu diskutieren. Die Schweiz, die gegen diese Ausnahmeregelung war, bleibt bei dieser Position. Heute fordert Ärzte ohne Grenzen (MSF) gemeinsam mit Public Eye und Amnesty International die Schweizer Regierung auf, die vorgeschlagene Ausnahmeregelung zu unterstützen. Die Zeit läuft und es ist entscheidend, dass alle Länder schnellen und ausreichenden Zugang zu Covid-19-Impfstoffen, Tests und Medikamente bekommen.

Sehr geehrte Frauen Bundesrätinnen,
Sehr geehrte Herren Bundesräte,
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

Mit diesem Schreiben fordern wir die Schweizer Regierung auf, den Antrag zur Ausnahmeregelung bezüglich einiger Bestimmungen des Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS-Abkommen) zur Prävention, Eindämmung und Behandlung von Covid-19 zu unterstützen und sich für konstruktive Verhandlungen mit anderen Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation (WTO) einzusetzen, mit dem Ziel, diesen Antrag am nächsten Treffen des Allgemeinen Rates der WTO im März 2021 zu verabschieden.

Angesichts der schon seit einem Jahr grassierende Pandemie, die Chaos und Leiden auf der ganzen Welt verursacht, ist diese Ausnahmeregelung absolut notwendig. Während sich einige Länder, darunter auch die Schweiz, genügend Impfdosen sichern konnten und ihre Risikogruppen bereits impfen, verfügen andere nicht über dieselben Mittel und geniessen nicht dieselbe Priorität, sodass sie bis zur Erreichung der Herdenimmunität noch mehrere Jahre warten müssen. Grund dafür ist der Impfnationalismus der reichen Länder. Dieser wird verschärft durch eine unzureichende weltweite Produktion und ein System, das die exklusive Herstellung durch grosse Pharmakonzerne begünstigt, statt einer dezentralen und damit grösseren Produktion Vorschub zu leisten. Ein nicht gleichberechtigter Zugang zu den Impfstoffen ist nicht nur ein «katastrophales moralisches Versagen», wie der Generaldirektor der WHO erklärte. Zwei neuen Studien zufolge würde eine weltweite Verteilung der Impfstoffe die Anzahl Covid-19-Tote um die Hälfte senken und in Ländern mit hohem Einkommensniveau, wie der Schweiz, Investitionsrenditen in der Höhe von mehreren Hundertmilliarden Dollar generieren.

Entgegen den Behauptungen der grossen Pharmakonzerne und der Länder, in denen diese beheimatet sind, sind Patente, Datenschutz oder das Geschäftsgeheimnis hemmende Faktoren für die Produktion von Covid-19 Tests, Medikamenten und Impfungen. Die bestehenden Regelungen in Bezug auf geistiges Eigentum haben es nicht ermöglicht, im Kampf gegen Covid-19 medizinische Produkte für die Bedürftigsten in ausreichenden Mengen und innert nützlicher Frist bereitzustellen. Es ist vor allem den von der öffentlichen Hand geschaffenen Anreizen und der internationalen Zusammenarbeit zu verdanken, dass die Wirksamkeit von Behandlungen nachgewiesen und Impfstoffe in Rekordzeit entwickelt werden konnten. Fundierte Daten belegen, dass die Rechte des geistigen Eigentums bereits die Verteilung und den Zugang zu Covid-19 Produkten und Behandlungen behindert haben.

Um die Schwierigkeiten in Bezug auf den Zugang zu Impfungen zu überwinden, haben die Staaten auf die Initiative Access to Covid-19 Tools Accelerator (ACT-A) und COVAX gesetzt. Obwohl es sich dabei um sinnvolle Notfallmechanismen handelt, können sie bestenfalls einen Bruchteil der für die Eindämmung des Virus erforderlichen Impfdosen liefern. Diese Mechanismen allein können keine Angebotssteigerung gewährleisten, die notwendig ist, damit alle Staaten einen ausreichenden Teil ihrer Bevölkerungen impfen können. Der Antrag auf eine Ausnahmeregelung zum TRIPS-Abkommen untergräbt diese Initiativen keinesfalls. Im Gegenteil, er ergänzt diese durch die Beschleunigung der weltweiten Produktion.

Aus diesem Grund haben Indien und Südafrika, gemäss Artikel IX des Abkommens von Marrakesch zur Errichtung der Welthandelsorganisation, eine zeitlich beschränkte Ausnahmeregelung zum TRIPS Abkommen vorgeschlagen. Bei einer Annahme dieses Antrages könnte jeder WTO-Mitgliedstaat beschliessen, während der Pandemie auf die Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums in Bezug auf Covid-19-Tests, -Behandlungen oder -Impfstoffe zu verzichten. Konkret wäre es lokalen Unternehmen erlaubt, sofern sie über das notwendige Know-how verfügen und die erforderliche Qualität gewährleisten können – was bei vielen der Fall ist – , diese Produkte ohne lange Lizenzverhandlungen herzustellen. Diese Ausnahmeregelung würde nicht nur zu einem grossen Zeitgewinn führen, sondern auch eine Handlungsfreiheit ermöglichen, um die Produktion anzukurbeln und so den bisher nicht gesicherten lokalen oder regionalen Bedarf abdeckt.

Gemeinsam mit anderen WTO-Mitgliedstaaten lehnt die Schweiz diese Ausnahmeregelung ab, hauptsächlich unter dem Vorwand, dass bereits bestehende Mechanismen, sogenannte TRIPS-Flexibilitäten, solchen Situationen gerecht werden. Offensichtlich reichen diese Mechanismen nicht aus, um einen raschen und fairen Zugang zu den Mitteln zur Bekämpfung der Pandemie zu gewährleisten. Die freiwillige Lizenz, die es einem Drittunternehmen erlaubt, ein patentiertes medizinisches Produkt zu den vom Patentinhaber festgelegten Bedingungen zu produzieren, unterliegt kommerziellen Zwängen, ist wenig transparent und geografisch beschränkt. Die Zwangslizenz erlaubt es einem Staat, ein Monopol aufzuheben, indem es zur Vermarktung eines Generikums berechtigt, obwohl ein Patent vorliegt. Sie ist grossem diplomatischem Druck ausgesetzt und eignet sich nicht für Krisensituationen: Sie ist nur national gültig, betrifft nur ein einziges Produkt und ihre Ausstellung erfordert Zeit. Eine TRIPS-Ausnahmeregelung würde es erlauben, diese Probleme zu umgehen.

Das Argument, dass Exklusivrechte die Anfangsinvestition mit einem Monopol decken sollen, ist in diesen Krisenzeiten nicht haltbar. Die aktuellen Forschungsbemühungen sind nur so bemerkenswert, weil die Pharmaindustrie immense öffentliche Subventionen erhalten hat. Ohne Letztere wäre sie niemals in der Lage gewesen, in so kurzer Zeit einen Impfstoff zu entwickeln. Diese finanziellen Beiträge beseitigen das Risiko hinsichtlich Forschung und Entwicklung (F+E), das häufig zur Begründung von Monopolen und hohen Preisen angeführt wird, zumal diese Beiträge ohne Auflagen gewährt wurden. Die Reservationsverträge, die mit wohlhabenden Ländern – sogar noch vor der Vermarktung des Produkts - abgeschlossen wurden, gewährleisten im Übrigen den Absatz der Produktion, und zwar zu einem Preis, der die Investitionen der Pharmaindustrie bei Weitem abdecken wird. 

Ein gerechter Zugang zu medizinischen Gütern ist Bestandteil des Rechts auf Gesundheit sowie des Rechts, am wissenschaftlichen Fortschritt teilzuhaben, die beide in der Internationalen Menschenrechtscharta verankert sind. Die Allgemeine Bemerkung Nr. 25 über Wissenschaft und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 30. April 2020 erläutert zudem die entsprechenden grundlegenden und extraterritorialen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten. Schliesslich strebt die 2019 verabschiedete schweizerische Gesundheitsaussenpolitik in ihren Leitprinzipien an, dass « durch einen auf Menschenrechten basierenden Ansatz ein gleichberechtigter Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle erreicht werden soll ».

Da der TRIPS Rat am 4. Februar über den Antrag befinden soll, fordern wir die Schweiz auf, den Antrag auf eine temporäre TRIPS-Ausnahmeregelung im Zusammenhang mit Covid-19 zu unterstützen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sie immer noch souverän entscheiden kann, ob sie das TRIPS-Abkommen im eigenen Land vollumfänglich umsetzen will. Da die Zeit drängt, ist es unerlässlich, dass die Länder, die noch nicht über Mittel zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie verfügen, möglichst rasch entsprechende Schutzmassnahmen ergreifen können.

Der Bundesrat hat in der Schweiz die Massnahmen verschärft, um eine durch die Corona-Mutationen aus dem Vereinigten Königreich und Südafrika ausgelöste neue Welle zu verhindern. Es ist daher auch im Interesse der Schweiz, dass alle Länder möglichst breit angelegte Tests, Behandlungen und Impfungen bei ihrer Bevölkerung durchführen können, um das Risiko neuer Mutationen, die auch uns betreffen könnten, abzuwenden. Die heutigen Impfstoffe scheinen glücklicherweise gegen die bestehenden Mutationen wirksam zu sein, aber das kann sich ändern. Je mehr die Pandemie auf globaler Ebene eingedämmt wird, umso geringer ist das Risiko, dass sich Mutationen verbreiten, für die der Impfschutz nicht wirkt. Wir werden uns daher erst in Sicherheit wiegen können, wenn die ganze Welt sicher ist – wie dies Führungspersönlichkeiten auf der ganzen Welt seit Anfang der Gesundheitskrise immer wieder gerne betont haben.

Die Coronavirus- Pandemie ist nicht nur eine Gesundheits- und Wirtschaftskrise, sondern auch eine Krise der Menschenrechte. Ein konstruktiver Beitrag in den Verhandlungen über eine TRIPS-Ausnahmeregelung, einschliesslich Diskussionen über künftige Texte, und die Beseitigung entsprechender Einwände, um einen einvernehmlichen Entscheid zu ermöglichen, wäre ein wichtiger Schritt für die Einhaltung der Menschenrechtsverpflichtungen der Staaten. Damit würde sichergestellt, dass die Gesetze, die Politik und die Praxis zum geistigen Eigentum kein Hindernis darstellt für das Erreichen der höchstmöglichen Gesundheitsstandards durch den Zugang aller Menschen auf der ganzen Welt zu medizinischen Produkten im Zusammenhang mit Covid-19.

Indem sie die TRIPS-Ausnahmeregelung unterstützt, kann die Schweiz hier und jetzt zeigen, wie sehr ihr die Menschenrechte und die Gesundheit der Menschen auf der ganzen Welt am Herzen liegen.

Freundliche Grüsse.

Unterzeichnete :
Public Eye, Amnesty International, Alliance Sud, Ärzte ohne Grenzen Schweiz, Médecins du Monde Schweiz, Netzwerk Medicus Mundi Schweiz, medico international schweiz, Centrale Sanitaire Suisse Romande, AMCA (associazione Aiuto Medico al Centro America), Pädiatrie Schweiz, Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte, Schweizerische Interessengemeinschaft für Anästhesiepflege, SEXUELLE GESUNDHEIT SCHWEIZ, Verein Feministische Wissenschaft Schweiz, PeaceWomen Across the Globe, IAMANEH Schweiz, Women’s Hope International, mediCuba Schweiz.