Dadaab, Kenia, kein Zutritt: Das grösste Flüchtlingslager der Welt ist voll
Kenia5 Min.
Gestrandet im Nordosten Kenias, inmitten einer unendlichen Wüste von Sand und struppigen Büschen, leben 30'000 Menschen in notdürftigen Unterkünften unter der sengenden Sonne. Weitere Familien haben die 80 Kilometer entfernte Grenze vom benachbarten Somalia überquert und sind auf dem Weg nach Dadaab. Doch die drei Flüchtlingslager in der Region sind bereits voll, es gibt keinen Platz mehr für Neuankömmlinge.
Bei ihrer Ankunft haben die Flüchtlinge – zumeist Frauen und Kinder – kein Geld, kein Essen, kein Wasser und kein Obdach. Im Durchschnitt dauert es zwölf Tage,(Statistik der MSF-Erhebung im Januar 2011, bei der 687 Familien in den besiedelten Gebieten ausserhalb der Lager befragt wurden) bis sie eine erste Essensration erhalten, und 34 Tage bis zum Erhalt von Kochutensilien und Decken durch das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, welches die Lager betreibt. Bis dahin müssen sie sich in der feindlichen Umgebung selber durchschlagen.
Angst und Staub
Bei Temperaturen von 50 Grad Celsius und in Angst vor Attacken durch Hyänen errichten die Familien notdürftige Unterkünfte am Rande der Lager. Sie verwenden, was immer sie finden können, vor allem Äste und Reisig, und binden das Material zu gewölbten Gebilden zusammen, die sie mit Karton, Plastik oder zerrissenen Stoffstücken bedecken – irgendetwas, das ihnen Schutz vor der sengenden Sonne und dem stickigen Staub bietet.
Ein Lager von der Grösse einer Stadt
Die Lager von Dadaab sind umgeben von unfruchtbarer Wüste. Die drei Lager – Dagahaley, Hagadera und Ifo – zusammen bekannt als das grösste Flüchtlingslager der Welt – entstanden vor 20 Jahren, um bis zu 90'000 Menschen aufzunehmen, die vor Gewalt und Bürgerkrieg in Somalia auf der Flucht waren. Ein Ende des Konflikts ist bis heute nicht in Sicht, und es sind mittlerweile über 350'000 Menschen,(Kennzahlen gemäss UNHCR) die auf engstem Raum im Lager zusammenleben, während gleichzeitig die Anzahl Neuankömmlinge weiter ansteigt. Dieses Jahr wurden bereits 44'000 neue Flüchtlinge registriert und bis Ende Jahr werden die Lager voraussichtlich 450'000 Menschen (Prognose gemäss UNHCR) beherbergen. Dies entspricht drei Mal der Bevölkerung der Stadt Genf.
Da immer mehr Menschen die Lager und die umgebende Wüste bevölkern, nimmt die Verfügbarkeit von essentiellen Grundleistungen wie Wasser, sanitären Anlagen und Bildung stetig ab und die Lebensbedingungen verschlechtern sich rapide.
Eine Ausweitung eines der Lager, Ifo 2 genannt, bietet Raum für 40'000 Flüchtlinge und könnte somit eine vorläufige Lösung für weitere Neuankömmlinge darstellen. Doch das Lager ist nur halbfertig und steht leer, da die Verhandlungen zwischen den kenianischen Behörden und dem UNHCR blockiert sind.
“Wir hatten nichts dabei, ausser den Kleidern, die wir trugen”
Mahmoud kam letzte Nacht mit seiner Frau, fünf Kindern und seiner verwitweten Mutter an. Sie sind in der behelfsmässigen Unterkunft seiner Schwester untergekommen, in der diese die vergangenen drei Monate gelebt hat. Er sagt: „Unsere Reise dauerte neun Tage. Wir hatten nichts dabei, ausser den Kleidern, die wir trugen. In Somalia waren wir Bauern, aber all unserer Tiere starben wegen der Dürre. Zwar gab es in unserer Stadt keine Gefechte, doch eine Gruppe von Milizen übernahm die Kontrolle über die Gegend und verlangte, dass wir ihnen Abgaben zahlen. Ich konnte nicht zahlen und beschloss deshalb zu flüchten. Ich hatte grosse Angst, dass wir auf der Reise angehalten würden und die Grenze nach Kenia nicht überqueren könnten. Wir mussten uns verstecken unterwegs.“
Die Grenzgebiete sind rechtsfreies und gefährliches Territorium. Viele Flüchtlinge erfahren auf der Durchreise Gewalt, Erpressung und Belästigung durch militante bewaffnete Gruppen, Soldaten, Polizisten und bewaffnete Banditen, für die sie alle eine leichte Beute darstellen.
Zum Bersten voll
Wenn sie endlich in den Lagern angelangen, befinden sich die meisten der neuen Flüchtlinge in schlechter gesundheitlicher Verfassung. Das Gesundheitssystem in Somalia ist dem Kollaps nahe, und die Mehrheit der Menschen lebt seit Jahren ohne grundlegende Gesundheitsversorgung. Durch die Dürre hat sich die Gesundheitssituation weiter verschlechtert, und viele Leute benötigen dringend ärztliche Behandlung.
Täglich geht ein MSF Team hinaus in das Lager und die Umgebung, um jene ausfindig zu machen, die ärztliche Behandlung benötigen. Die schwersten Fälle – darunter eine hohe Anzahl leicht oder akut mangelernährter Kinder, oft mit medizinischen Komplikationen – werden direkt zu einem MSF-Gesundheitsposten oder zum gut ausgelasteten Spital gebracht, das MSF im Lager von Dagahaley betreibt.
Keine Impfungen
Die Bedürfnisse dieser Neuankömmlinge wachsen so rasant, dass MSF eilig versucht, zusätzliches Personal zu rekrutieren und weitere Ressourcen zu erschliessen. Im Vormonat führten die Mitarbeiter in den Gesundheitsposten insgesamt 11'963 Beratungen durch. Dabei bekommt das Personal zahlreiche Patienten zu Gesicht, die unter Atemwegsinfektionen, Durchfallerkrankungen, Tuberkulose, Mangelernährung und Traumata leiden sowie eine steigende Anzahl von komplizierten Fällen. Im März 2011 wurde ein neuer Gesundheitsposten mitten in dem Gebiet eröffnet, wo sich Neuankömmlinge niederlassen. Bereits jetzt werden hier im Schnitt 110 Konsultationen pro Tag durchgeführt. Seit Oktober beschäftigt MSF mehr als 50 zusätzliche Personen. Damit sind es insgesamt 458 Mitarbeiter im Lager von Dagahaley.
Rund 40 Prozent der Kinder haben vor ihrer Ankunft nie Impfungen empfangen, was in Kombination mit Mangelernährung und schlechten Lebensbedingungen eine massive Bedrohung für die Gesundheit darstellt. Impfkampagnen, die zum Teil unter einem Baum in der Wüste durchgeführt werden, helfen, den Ausbruch von Krankheiten zu verhindern.
Stationen überfüllt mit Betten
Der Druck nimmt auch im MSF-Spital mitten im Dagahaley-Lager zu, wo internationales, kenianisches und somalisches Personal kostenlose medizinische Versorgung anbietet. Das Spital verfügt über 110 Betten und ist die einzige funktionierende Gesundheitsinstitution für die 113'000 Flüchtlinge im Lager sowie für die steigende Anzahl Flüchtlinge, die sich in der Wüste niedergelassen haben. Dr. Gedi Mohammed, Leiter des Spitals, sagt: „ Bis vor kurzem betrug die Belegungsquote ungefähr 80 Prozent, aber nun – mit den Neuankömmlingen – beträgt sie 110 Prozent.“
MSF leistet in Kenia seit 1992 medizinische Hilfe und ist in den Lagern bei Dadaab seit insgesamt 14 Jahren tätig. Seit 2009 ist MSF der einzige Anbieter medizinischer Leistungen im Lager von Dagahaley. Die Organisation gewährleistet die Gesundheitsversorgung für die 113'000 Bewohner in den fünf Gesundheitsposten und in einem Spital mit 110 Betten.