Dadaab, Kenia: «Nach Hause zu gehen ist keine Option.»
© Paul Odongo/MSF
Kenia5 Min.
Die Schliessung der Dadaab-Flüchtlingslager und der Druck auf die Menschen, nach Somalia zurückzukehren, wird zu einer noch schlimmeren humanitären Krise führen. Das sagen viele Geflüchtete, vor allem diejenigen, die vor kurzem nach Somalia zurückgekehrt sind, aber wegen der allgegenwärtigen Gewalt und der eingeschränkten Grundversorgung in dem Land nach Dadaab zurückgekehrt sind.
Im Dadaab-Flüchtlingskomplex leben derzeit über 200 000 Menschen, die in den letzten 30 Jahren in mehreren Wellen nach Kenia gekommen sind. Nachdem Kenia und das UNHCR kürzlich die Schliessung der Lager auf Juni 2022 angekündigt haben, haben viele Geflüchtete Angst und sind in Ungewissheit, was danach kommen wird. Aber in einem Punkt sind sie sich sicher: Sie wollen nicht nach Somalia zurück, dem Heimatland der meisten Bewohner*innen von Dadaab.
Ich würde überall hingehen, wo sie mich hinbringen, nur nicht nach Somalia.
Halima*, 33, lebt heute in Dagahaley - einem der drei Camps in Dadaab. Sie sah sich vor einigen Jahren gezwungen, nach Somalia zurückzukehren, nachdem sie die Nachricht erreichte, dass ihr Mann, der vorangegangen war, um den Weg für ihre Rückkehr nach Somalia vorzubereiten, entführt worden war.
Kaum war Halima in Somalia angekommen, wurde auch sie zusammen mit ihren fünf Kindern entführt. «Ich wurde gefoltert und vergewaltigt, zusammen mit meinem 12-jährigen Mädchen», sagt sie. «Wir wurden nach einem Monat freigelassen, als sich unser Gesundheitszustand verschlechterte. Es gelang uns, erneut nach Dadaab zu fliehen.» Als Halima über das Radio von dem Plan erfahren hat, dass Dadaab geschlossen werden sollte, sah sie vor ihrem inneren Auge ihre Kinder tot in ihren Gräbern. «Es brach mir das Herz», sagt Halima.
Der 64-jährige Ahmed war 2018 ebenfalls über das UNHCR-Programm zur freiwilligen Rückführung nach Somalia zurückgekehrt. Das Leben in Somalia war für ihn bei weitem nicht so, wie er es erwartet hatte. «Ich hatte auf ein Land mit besserer Sicherheit und Versorgung gehofft", sagt er. Nach nur zwei Monaten kehrte er zurück. Ahmed lebt jetzt am Aussenrand des Lagers Dagahaley.«Ich mache mir Sorgen, was passieren wird, wenn das Lager geschlossen wird», sagt Ahmed. «Unsere Lebensbedingungen hier sind zwar schwierig, aber auf jeden Fall besser als in Somalia.»
Andere, die im Lager geboren wurden oder fast ihr ganzes Leben dort verbracht haben, fragen sich, wohin sie eigentlich zurückkehren. «Ich weiss gar nichts über Somalia», sagt der 20-jährige Idilo Boro Amiin, der im Lager geboren wurde. «Ich habe mein ganzes Leben in Dagahaley verbracht.» Idilo hat drei Kinder, die ebenfalls im Lager geboren wurden.
Sorgen um den Zugang zur Gesundheitsversorgung
Neben der Sicherheit machen sich viele Flüchtlinge Sorgen darüber, wie sie weiterhin Zugang zu grundlegenden Leistungen wie der Gesundheitsversorgung haben werden, wenn die Lager geschlossen werden. «Meine grösste Sorge ist, wie ich Insulin für meine Tochter bekomme», sagt Isnina Abdullahi. Ihre Tochter Idilo muss sich jeden Morgen und Abend Insulin spritzen, seit bei ihr 2009 Typ-1-Diabetes diagnostiziert wurde.
Zurzeit nimmt Idilo an einem Programm von Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) teil, wo sie gelernt hat, ihren Blutzucker selbst zu messen und sich Insulin zu spritzen. Sie bekommt jeden Monat ihr Insulin vom Krankenhaus, das sie in einer tragbaren Kühlbox aufbewahren kann. Allein in Dagahaley, einem Lager mit über 70 000 Einwohner*innen, benötigen rund 50 Menschen eine kontinuierliche Diabetesbehandlung, weitere 300 benötigen regelmässig Medikamente gegen chronische Krankheiten wie HIV/AIDS, Tuberkulose und verschiedene Krebsarten sowie neurologische Störungen. MSF-Mitarbeitende führen in Dagahaley im Durchschnitt mindestens 700 lebensrettende Operationen pro Jahr durch, darunter auch Kaiserschnitte.
«Wenn die Camps geschlossen werden und es keine alternativen Lösungen gibt, um den Menschen weiterhin Zugang zu medizinischer Versorgung zu ermöglichen, könnte dies katastrophale Folgen haben», sagt Jeroen Matthys, Projektkoordinator von Ärzte ohne Grenzen in Dagahaley. «Für diejenigen, die sich entscheiden, in ihre Heimatländer zurückzukehren, aber eine fortgesetzte Behandlung benötigen, ist es wichtig, vorgängig Lösungen zu finden, damit sie weiterhin ihre Medikamente erhalten.»
Die erzwungene Rückkehr hinterlässt tiefe psychologische Narben
Abgesehen davon, dass die Menschen ihr Leben aufs Spiel setzen und kaum Zugang zu grundlegender Versorgung haben, kann die erzwungene Rückkehr tiefe psychologische Narben hinterlassen, die bei vielen bleibende Auswirkungen haben. Seit Halima zurückkam, wird sie in der Klinik für psychische Gesundheit von Ärzte ohne Grenzen in Dagahaley wegen posttraumatischer Belastungsstörungen behandelt. Auch Halimas älteste Tochter braucht regelmässig psychosoziale Beratung - obwohl sie 16 Jahre alt ist, geht sie wie ihre achtjährige Schwester noch in die zweite Klasse. «Es war eine schwere Belastung für meine Tochter», sagt Halima. «Sie hat sich nie von dem Trauma, das sie [in Somalia] erlitten hat, erholt, und das hat ihr tägliches Leben und auch ihre schulischen Leistungen beeinträchtigt.»
Unklarheit über Schliessungspläne
Im April stellte das UNHCR einen Plan zur Schliessung der Lager vor, aber ein endgültiger Plan wird erst im Laufe des Jahres erwartet. Das lässt den Menschen wenig Zeit, sich auf das vorzubereiten, was als nächstes kommen wird. Was auch immer passiert, die Geflüchteten sagen, dass sie im Moment nur zwei Möglichkeiten haben: in ein Drittland umzusiedeln oder in Kenia zu bleiben. Hawa, 35, dessen Bruder in Somalia von bewaffneten Gruppen entführt und gefoltert wurde und der so traumatisiert ist, dass er sich weigert, nachts zu schlafen, sagt: «Ich bin froh, wenn ich hier umgesiedelt werde, aber wenn das scheitert, würde ich mich lieber vor Ort integrieren, als nach Somalia zurückzukehren.»
«Wir sehen, dass die Rückkehr für viele keine dauerhafte Lösung ist, solange in den Herkunftsländern keine friedlichen Verhältnisse herrschen», sagt Dana Krause, MSF-Landeskoordinatorin in Kenia. «Viele, die nach Somalia gegangen und wieder zurückgekehrt sind, berichten uns, dass die Unsicherheit in Somalia immer noch allgegenwärtig ist. Anstatt die Lager vorschnell zu schliessen, braucht es konstruktive Gespräche, bei denen auch die Geflüchteten und die Aufnahmegesellschaften beteiligt werden, damit nachhaltige und menschenwürdige Lösungen gefunden werden können.»
Mohamed Noor Mohamed, 58, ist ein Repräsentant der Aufnahmegesellschaft der Region. Er sagt, dass Geflüchtete und Einheimische über die Jahre enge Beziehungen aufgebaut haben. Sie haben untereinander geheiratet, gemeinsam Geschäfte gemacht und und gemeinsam Viehbestände bewirtschaftet. Er sagt, dass die Gastgesellschaften über den Plan, das Lager zu schliessen, nicht glücklich sind. «Wenn die Flüchtlinge gehen, werden wir auch gehen müssen, weil wir hier ohne Wasser und die anderen Versorgungsleistungen, zu denen wir jetzt Zugang haben, nicht überleben können.»
© Paul Odongo/MSF