Jesidische Gemeinschaft: Covid-19 verschärft Notlage
© Emilienne Malfatto
Irak5 Min.
Die jesidische Gemeinschaft im Irak war schon vor Covid-19 von traumatischen Erfahrungen geprägt. Die Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus treffen die Jesidinnen und Jesiden im Bezirk Sinjar im Nordwesten des Iraks deshalb besonders hart. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort berichten, wie die Folgen der Pandemie sich auf die religiöse Minderheit auswirken.
Im August 2014 wurde die jesidische Gemeinschaft, eine im Nordwesten des Iraks lebende religiöse Minderheit, brutal vom Islamischen Staat (IS) angegriffen. Tausende Männer wurden getötet, Schätzungen zufolge wurden 6000 Frauen und Mädchen entführt, versklavt und vergewaltigt. Mehr als sechs Jahre später leiden viele Familien noch immer an den psychischen und physischen Wunden der traumatischen Ereignisse. Nach wie vor suchen Mitglieder der Gemeinschaft nach ihren Angehörigen oder trauern um die Verstorbenen. Viele kämpfen weiterhin darum, ihre Existenzgrundlage wieder aufzubauen.
Bislang wurden in der Region kaum Covid-19-Fälle verzeichnet. Trotzdem verschärft die Pandemie die Notsituation, in der sich die jesidische Gemeinschaft befindet, noch weiter. Durch die von der Regierung verhängten Schutzmassnahmen mussten auch Menschen zu Hause bleiben, die Arbeit hatten. Sie konnten kein Geld mehr verdienen, um ihre Familien zu versorgen. Schon vor Beginn der Pandemie lebten die meisten Jesidinnen und Jesiden weit unter der Armutsgrenze, die Arbeitslosigkeit war hoch.
Aeed Nasir arbeitet seit 2018 für Ärzte ohne Grenzen als Leiter des Pflegepersonals im Spital in der kleinen Stadt Sinuni. Er beschreibt die Situation so :
Vor dem Coronavirus hatten die Menschen ein geringes Einkommen. Jetzt haben sie gar keines.
Bei vielen Menschen haben die Ungewissheit über die Zukunft, die Schwierigkeiten, die eigene Familie zu versorgen und die ungewohnte viele Freizeit zu Frust und Stress geführt. Gerade für Menschen, die schon traumatische Erfahrungen aus der Vergangenheit bewältigen müssen, sind solche Umstände besonders belastend. Phoebe Yonkeu, Leiterin unserer psychosozialen Aktivitäten in Sinuni, berichtet :
«Wir haben einen Anstieg von häuslicher Gewalt festgestellt. Nachdem die Ausgangssperren gelockert wurden, sind viele Frauen zu uns gekommen, deren Männer ihnen oder ihren Kindern gegenüber aggressiv geworden sind. Aggressives Verhalten und Wut auf Familienmitglieder ist eine Form, Frust und Ängste zu kanalisieren. Wir haben in Sinjar auch vermehrt Menschen mit Depressionen betreut, und wir glauben, dass der Lockdown dabei eine grosse Rolle gespielt hat. In den letzten Monaten sind viele Patientinnen und Patienten mit Suizidgedanken oder nach Suizidversuchen zu uns gekommen, und das sind schwere Symptome von Depression.»
Von Gesundheitsversorgung abgeschnitten
Vor der Covid-19-Pandemie wurden Patientinnen und Patienten, die eine fachmedizinische Behandlung brauchten, in die Spitäler im Gouvernement Dohuk überwiesen. Jetzt ist Mossul aber wegen der Covid-19-bedingten Reisebeschränkungen der einzig erreichbare Ort. Um die Checkpoints auf dem Weg nach Mossul passieren zu können, müssen die Patientinnen und Patienten aber in einem Krankenwagen transportiert werden. Im Schnitt dauert es vier Stunden, bis die Betroffenen in den Spitälern in Mossul ankommen.
Für viele Menschen aus den Dörfern in Sinjar ist das Spital in der kleinen Stadt Sinuni somit die einzige Möglichkeit, medizinische Versorgung zu bekommen. Doch die Zahl der Frauen, die ins Spital kommen, ist gesunken. Ärzte ohne Grenzen unterstützt die Einrichtung seit 2018 in den Bereichen Notfallversorgung und Geburtshilfe:
Die Frauen kommen nicht zu Schwangerschaftsuntersuchungen oder zu Terminen zur Familienplanung, weil sie die Checkpoints nicht passieren können. Sie werden nicht als Notfall betrachtet.
«Nachdem die Reiseeinschränkungen in letzter Zeit etwas gelockert wurden, sind vermehrt Frauen mit unerwünschten Schwangerschaften zu uns gekommen, die erzählt haben, dass ihnen die Verhütungsmittel und Medikamente ausgegangen sind», fährt Debrah fort.
Nicht nur Covid-19 hat bei der Bevölkerung in den letzten Monaten zu zusätzlichem Stress geführt. Auch die Luftangriffe in der Region und andauernde Militäraktionen gegen Gruppen, die mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in Verbindung stehen, haben Ängste ausgelöst. Die Menschen fürchten, die Region könnte wieder zur Kriegszone werden.
Folgen des Massakers noch sehr präsent
Unser Pflegeleiter Aeed Nasir erzählt: «Die jesidische Bevölkerung hat nicht vergessen, was ihr 2014 angetan wurde. Die Folgen des Massakers beherrschen die Region noch immer. Nach wie vor werden Massengräber gefunden. Ich sehe die Hoffnungslosigkeit in den Gesichtern der Menschen. Manche von ihnen haben nicht einmal genug Geld, um Nahrungsmittel kaufen zu können. Oft sammeln wir – das Spitalpersonal – Spenden für Patientinnen und Patienten. In Sinjar gibt es einfach nichts, manchmal kann man nicht einmal das Wasser trinken. Wie glauben Sie, dass Menschen sich fühlen, wenn sie nichts haben ?»
Folgen des Massakers noch sehr präsent
Unser Pflegeleiter Aeed Nasir erzählt : «Die jesidische Bevölkerung hat nicht vergessen, was ihr 2014 angetan wurde. Die Folgen des Massakers beherrschen die Region noch immer. Nach wie vor werden Massengräber gefunden. Ich sehe die Hoffnungslosigkeit in den Gesichtern der Menschen. Manche von ihnen haben nicht einmal genug Geld, um Nahrungsmittel kaufen zu können. Oft sammeln wir – das Spitalpersonal – Spenden für Patientinnen und Patienten. In Sinjar gibt es einfach nichts, manchmal kann man nicht einmal das Wasser trinken. Wie glauben Sie, dass Menschen sich fühlen, wenn sie nichts haben ?»
Unsere Hilfe in Sinuni
Ärzte ohne Grenzen unterstützt seit Dezember 2018 das Spital von Sinuni zunächst in den Bereichen Notfallversorgung und Geburtshilfe und erkannte schnell, dass bei der psychischen Versorgung ein enormer ungedeckter Bedarf bestand. In der Folge hat die Organisation die psychologische Hilfe im Spital Sinuni ausgebaut. Zudem wurden Gruppensitzungen und mobile psychiatrische Kliniken für die Vertriebenen am Berg Sinjar eingeführt.
Unser Team bietet mehr als 90 000 Menschen in der Region medizinische Versorgung. Im Jahr 2019 haben wir über 14 500 Patientinnen und Patienten in der Notaufnahme des Spitals in Sinuni behandelt, 755 Geburten betreut und 8700 Beratungen zu sexueller und reproduktiver Gesundheit sowie über 1400 psychosoziale Beratungen durchgeführt.
© Emilienne Malfatto