«Man sieht Kinder im Schnee unter Olivenbäumen sitzen» – Bericht eines Arztes aus Nordsyrien

Das Qadimoon-Camp im Nordwesten Syriens, Februar 2020

Syrien3 Min.

Ein Arzt, der mit uns im Lager Deir Hassan arbeitet, das 30 Kilometer westlich von Aleppo liegt, berichtet: «Seit fast neun Jahren ist Krieg. Die Schwierigkeiten, die wir in diesem Jahr durchleben müssen, sind jedoch so gross wie die vorangegangenen acht Jahre zusammengenommen.»

Hunderttausende fliehen zurzeit vor der Offensive der Regierungstruppen in das letzte von Oppositionellen gehaltene Gebiet in Syrien. Unser Arzt berichtet, dass sie bei Schnee und Kälte oft fast ohne Habseligkeiten unterwegs sind und teilweise im Freien übernachten müssen.

«In der vergangenen Woche ist die Armee sehr schnell in das Gebiet westlich von Aleppo vorgerückt. Die Menschen haben damit nicht gerechnet. In Al Atareb, Abian, Kafr Naha, Kafr Nouran und Maarat-al-Nouman verliessen sie ihre Häuser. Einige gingen zu Fuss, denn nicht jeder kann ein Auto auftreiben. Sie liefen viele Kilometer ohne Habseligkeiten durch die Kälte - ohne etwas, das sie warmhielt. Einige flohen nur mit den Kleidern, die sie am Leib trugen.

Es bringt einen zum Weinen, wenn man das sieht

Es schneit seit zwei oder drei Tagen in ganz Idlib. Man sieht Menschen mit Decken am Strassenrand sitzen. Man sieht Frauen mit Kindern im Arm, die in Decken eingewickelt sind. Man sieht Kinder, die im Schnee unter Olivenbäumen sitzen. Es bringt einen zum Weinen.

Viele Menschen sind auf dem Weg nach Afrin und Asas. Sie wissen, dass es keine Häuser zu mieten gibt. Manche können vielleicht bei Leuten wohnen, die sie kennen - sonst müssen sie im Freien bleiben, bis ihnen jemand ein Zelt gibt. Andere Menschen wandern ziellos umher und haben keine Ahnung, wohin sie gehen. 

Es ist eine Katastrophe

In der Stadt Al-Dana leben einige Menschen in unfertigen Gebäuden, mit einem Dach und Wänden, aber ohne Fenster. Die meisten können in der Stadt keine Unterkunft finden, so dass sie gezwungen sind, Zelte aufzustellen, wo immer sie können.

Diese Gebiete sind mit Zelten bedeckt, und je näher man der türkischen Grenze kommt, desto mehr Zelte sieht man. Diejenigen, die sich kein Zelt leisten können, teilen sich eines mit anderen Familien. Manche haben ihr ganzes Hab und Gut auf den Boden geworfen, weil sie noch kein Zelt haben und im Freien leben. Die Menschen frieren. Es ist katastrophal.

Ich bin selbst Vertriebener

Menschen jeglichen Alters sind aufgrund des kalten Wetters krank. Die Menschen haben keine Heizung und keine Medikamente. Sie haben ihre Häuser ohne alles verlassen.

Ich bin auch ein Vertriebener. Aus dem Dorf, in dem ich jetzt lebe, können wir die Bombenangriffe aus der Nähe hören, die von den Fronten kommen. Es ist beängstigend und stressig. Aber ich habe Erfahrung mit Vertreibungen und halte mich immer bereit, jederzeit zu fliehen.

Die Angst hat uns vernichtet

Seit fast neun Jahren ist Krieg. Die Schwierigkeiten, die wir in diesem Jahr durchleben müssen, sind jedoch so gross wie die der vorangegangenen acht Jahre zusammengenommen. In diesem Jahr waren die Angriffe brutal. Jegliche Art von Waffen wurden eingesetzt: Artillerie, Raketenwerfer, Maschinengewehre, Flugzeuge ... Die Menschen hier wissen, dass in jedem Augenblick das Schlimmste passieren kann.

Die Menschen sind verloren und haben keine Ahnung, was vor sich geht. Die Angst hat uns vernichtet. Wir wissen nicht, was politisch vor sich geht und wir wissen nicht, was in der Zukunft passieren wird. Niemand weiss, wie die Situation morgen aussehen wird, nur, dass es Bombenangriffe gibt und dass die Regierungstruppen vorrücken.

Alles, was wir wollen, ist ein sicherer Ort zum Leben.»