Psychische Gesundheit in Winnyzja, Ukraine: «Nach meinem Gespräch mit der Psychologin habe ich mich wie ein neuer Mensch gefühlt.»
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Die 56-jährige Natalia Kyshnir überlebte die Belagerung von Mariupol, musste jedoch eine schwere Entscheidung treffen: In Mariupol bleiben und sich um ihre Mutter kümmern oder mit ihrem Sohn fliehen, um sich in Sicherheit zu bringen. Schliesslich entschied sie sich für die Flucht nach Winnyzja – doch das traumatisierte sie. Nachdem sie psychologische Unterstützung durch die Teams von Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF) erhielt, fühlt sie sich nun wieder bereit für die Zukunft.
«Ich bin in der Stadt Mariupol geboren. Dort habe ich bis zur Eskalation des Krieges gelebt. Er begann am 24. Februar 2022 und erreichte fünf Tage später Mariupol. Wir wussten, dass der Krieg nun in unserer Stadt war, als wir an diesem Tag zur Arbeit kamen. Die Menschen standen in langen Schlangen an, um Geld abzuheben. Sie deckten sich in den Geschäften mit Lebensmitteln ein. Mein jüngster Sohn und ich taten das Gleiche. Wir standen drei oder vier Stunden an, um Geld abzuheben. Wir nahmen das Geld und stellten uns vor einem Laden an, wo wir nochmals drei Stunden draussen warten mussten. Nachdem wir die Lebensmittel hatten, dauerte es wieder zwei Stunden, bis wir bezahlt hatten.
Zuerst wurde der Strom abgeschaltet und es gab kein Licht und kein Telefon mehr. Dann wurde das Wasser abgestellt und schliesslich das Gas. Das war das Ende: kein Wasser, kein Gas, kein Licht. Wir konnten die russischen Truppen hören.
Fünf Tage später entschieden mein Nachbar und ich, dass es an der Zeit war, im Keller Schutz zu suchen. Wir hatten Glück, denn unser Keller war trocken und es gab weder Ratten noch Mäuse.
Das Leben im Keller war trotzdem sehr schwierig. Alle fünf Minuten hörten wir Flugzeuge über uns, Artilleriegeschosse prasselten wie Hagelkörner nieder. Uns blieben nur sehr kurze Momente, um den Keller zu verlassen und zu kochen. Wir assen zweimal am Tag das Gleiche. Als wir kein Wasser mehr hatten und die Temperatur draussen auf -9 Grad sank, sammelten wir mit Schaufeln Schnee und schmolzen ihn. So konnten wir Tee machen und uns Hände und Gesicht waschen.
Eines Tages gingen mein Sohn und ich zum Fluss [zum Wasserholen]. Mehr als 500 Menschen warteten in einer langen Schlange vor den Brunnen. Auf einmal schlugen Bomben neben uns ein. Wir schrien und liefen los. Ich weiss nicht, wie viele Kilometer wir liefen, aber als wir endlich zu Hause ankamen, konnte ich eine Stunde lang kaum atmen. Vielleicht hatte ich deswegen so viel Angst.
Meine 83-jährige Mutter lebte mit uns in unserer Wohnung. Wegen Problemen mit ihren Beinen kam sie die steile Treppe in den Keller nicht runter. Wir richteten ihr im Flur der Wohnung einen Bereich ein und verbarrikadierten die Fenster mit Sperrholz, um sie vor Granatsplittern zu schützen.
In unserem Keller waren wir schon sehr viele, aber die Stimmung war herzlich: Wir teilten Medikamente und Lebensmittel. Mein jüngster Sohn feierte seinen 18. Geburtstag im Keller. Wir luden alle zu Tee und Keksen ein, feierten und weinten zusammen. Er sagte zu mir: «Ich kann in so einer Situation nicht erwachsen werden.»
Mein Sohn ist Epileptiker. Eines Nachts zitterte er. Ich fragte ihn: «Ist dir kalt?» und er antwortete: «Mama, ich habe Angst.» Der Arzt hatte ihm zwei Medikamente verschrieben. Von dem einen hatte ich noch etwas in Reserve, aber von dem anderen nicht. Diese Situation machte uns zunehmend Angst. Normalerweise sollte er nach jedem epileptischen Anfall Medikamente nehmen, aber wir hatten keine mehr. Wir wussten nicht, wie lange es so weitergehen würde.
Es gab weitere Bombardierungen, die Menschen verloren dabei Arme oder Beine. Sie riefen um Hilfe, aber niemand konnte etwas tun, es gab weder Spitäler noch Ärzte. Alles war zerstört, die Banken, Apotheken und Geschäfte waren geplündert, es gab nichts mehr. Meine Mutter war krank. Drei Personen wurden getötet, als sie bei uns in der Nähe kochten. Die Frau wurde von der Druckwelle regelrecht weggepustet. Wir konnten sie nicht begraben. Wir hofften, dass alles bald vorbei sein würde. Aber nichts wurde gut, und bald hatten wir nichts mehr zu essen.
Wir lebten einen Monat lang im Keller. Am Abend des 23. März versammelten wir uns und entschieden, Mariupol zu verlassen. Ich habe meiner Mutter bei den Vorbereitungen geholfen, damit sie mitkommen konnte. Wir haben nichts mitgenommen, ausser einem Paar Socken und einer grossen Flasche Wasser. Wir liefen, liefen und liefen. Meine Mutter konnte irgendwann nicht mehr. In diesem Moment musste ich mich zwischen meinem Sohn und meiner Mutter entscheiden: mit ihm gehen, um Medikamente zu finden oder in Mariupol bleiben und mich um sie kümmern. Diesen Moment werde ich nie mehr vergessen. Meine Mutter sagte, ich solle gehen. Sie gab mir etwas Geld, um etwas in Erinnerung an sie zu kaufen. Also sind wir weiter und meine Mutter ging zurück nach Hause.
An diesem Tag legten wir 16 Kilometer zu Fuss zurück. Die russischen Truppen kontrollierten uns alle zwei Kilometer: Telefon, Computer usw. Als ich mich umsah, sah ich, dass schwarzer Rauch alles einhüllte. Die Menschen in Mariupol starben. Sie verhungerten. So viele Menschen sind unter den Trümmern gestorben!
Wir liefen weiter, und auf einmal stand sie da: Anna, eine Krankenschwester. Ich bin so dankbar, dass sie uns zur Seite genommen hat, meinen Sohn und mich. Ich werde ihr mein Leben lang dankbar sein. Anna rief einen Freund an, der uns mit dem Auto abholte. Er brachte uns nach Urzuf [an der Küste im Südwesten von Mariupol]. Als Vertriebene aus Mariupol wurden wir ins Sanatorium von Urzuf geschickt. Wir erhielten eine Unterkunft und Lebensmittel. Wir konnten uns umziehen und unsere Kleidung waschen, denn seit einem Monat hatte sich keiner von uns waschen können.
Am Tag darauf verliessen wir Urzuf Richtung Berdjansk [einer Stadt 80 km westlich von Mariupol, die von russischen Truppen kontrolliert wird]. Am Sportzentrum warteten Vertriebene auf die humanitären Busse. Wir warteten mehrere Tage. Wir wussten nicht, wann die Busse kommen würden. Gott sei Dank kamen sie dann irgendwann endlich.
Als wir uns Saporischschja [die grösste Stadt der Region, in der Nähe der Trennungslinie zwischen russischen und ukrainischen Truppen] näherten, fühlte ich mich langsam leichter. Wir brauchten vier oder fünf Stunden für die Fahrt, und die Busse wurden alle zwei Kilometer von der Armee kontrolliert. Als wir die Trennungslinie überquerten, hörte man überall im Bus Seufzer der Erleichterung. Die ukrainische Armee nahm uns in Empfang und begleitete uns bis Saporischschja. Wir wurden in einen Kindergarten gebracht, wo wir etwas zu essen und Matratzen zum Schlafen bekamen.
Von dort nahmen wir den Zug nach Chmelnyzkyj. Als wir in Winnyzja einfuhren, entschied ich, auszusteigen, obwohl es eigentlich nicht unser Ziel war. Warum, weiss ich auch nicht. Wir gingen zuerst in ein Hotel. Dann fanden wir mit Hilfe meines älteren Sohns, der uns Geld schickte, eine Wohnung und ich fand eine Stelle als pädagogische Assistentin in einer Krippe.
Ein Jahr lang fühlte ich mich permanent gestresst. Meine Beine begannen zu schmerzen, mein ganzer Körper schmerzte, ich fühlte mich wie zerrissen. Mir ging es von Tag zu Tag und von Monat zu Monat schlechter. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, ob ich weiter zur Arbeit gehen sollte oder nicht. Eigentlich bin ich ein optimistischer Mensch, aber ich wusste einfach nicht weiter. Schliesslich musste ich meinen Job in der Krippe aufgeben. Ich verstand nicht, was mit mir geschah, obwohl ich normalerweise sehr logisch denke. Es gelang mir nicht, wieder gesund zu werden.
Je länger man es hinausschiebt, einen Psychologen aufzusuchen, desto schlimmer wird die Situation. Eines Tages ging ich ins Zentrum von Mariupol und traf dort Mariana, eine Gesundheitspromoterin von Ärzte ohne Grenzen. Am Tag zuvor hatte ich mit meinem Sohn darüber gesprochen, wie man einen guten Psychologen finden könnte. Wir hatten ja kein Geld, um für eine Psychotherapie zu bezahlen. Mariana gab mir die Telefonnummer des Zentrums von Ärzte ohne Grenzen. Ich rief an und bekam für den folgenden Montag um 9 Uhr einen Termin. Danach ging ich einmal die Woche zu meiner Sitzung mit der Psychologin und wurde jedes Mal mit einem Lächeln begrüsst. Dafür bin ich sehr dankbar! Nach den Übungen und Gesprächen mit der Psychologin habe ich mich wie ein neuer Mensch gefühlt. Ich begann, wieder deutlich positiver zu denken.
Ich arbeite auch wieder, nun als Apothekenassistentin. Meinen drei Kindern, 35, 30 und 20 Jahre alt, geht es gut. Und meine Mutter ist bei meiner Tochter eingezogen, die in der Nähe wohnt. Sie kümmern sich nun umeinander und wir machen regelmässige Videocalls.
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