Interview mit Marcos Moyano, Experte für psychische Gesundheit

Une patiente devant un mur sur lequel se trouve une inscription

Psychische Gesundheit6 Min.

Anlässlich des Welttags der psychischen Gesundheit berichtet unser Experte Marcos Moyano über die besondere Relevanz psychologischer Hilfsangebote im humanitären Kontext.

Was ist das Besondere bei der Behandlung von psychischen Leiden im humanitären Kontext?

Zuerst einmal ist zu sagen, dass wir bei der humanitären Arbeit auf einen grossen Bedarf an psychologischer Hilfe stossen, wobei die Menschen normalerweise keinen Zugang zu einer hochwertigen Versorgung haben. Und das, obwohl effiziente Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. In Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen erhalten weniger als 10 Prozent der Bevölkerung eine angemessene Behandlung. Das macht Menschen mit psychischen Erkrankungen zu einer der Bevölkerungsgruppen, die weltweit am stärksten gefährdet ist und am häufigsten ausgegrenzt wird. Der Welttag der psychischen Gesundheit ist ein willkommener Anlass, um auf die Probleme beim Zugang zu hochwertigen Behandlungen hinzuweisen und weitere Investitionen in diesem Bereich zu fordern. Da es in unseren Einsatzländern so gut wie keine mentale Gesundheitsversorgung gibt, müssen Organisationen wie wir ihre eigenen Programme für psychische Gesundheit ins Leben rufen und die Massnahmen selbst oder in Zusammenarbeit mit Dritten ausbauen und anbieten. Und es geht nicht nur um psychisches Wohlbefinden. Körper und Seele lassen sich nicht trennen. Wir müssen also eine ganzheitliche medizinische Versorgung anstreben, die psychische und physische Bedürfnisse gleichermassen abdeckt.

Welche konkreten psychologischen Betreuungsangebote hat Ärzte ohne Grenzen?

Die Angebote müssen auf die verschiedenen Kulturen und Gesellschaften ausgerichtet werden und dem Bedarf vor Ort entsprechen. Natürlich gibt es auch evidenzbasierte Empfehlungen für verschiedene Kontexte. Es gibt verschiedene Massnahmen, die die Bewahrung und Verbesserung der seelischen Gesundheit und der sozialen Aspekte, die die Psyche beeinflussen, zum Ziel haben. Sie werden unter dem Begriff «Psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung» (englisch: Mental Health and Psychosocial Support, MHPSS) zusammengefasst. Einige Aktivitäten können von Sozialarbeiterinnen oder Sozialarbeitern sowie geschulten, nicht spezialisierten Mitarbeitenden im Bereich psychische Gesundheit durchgeführt werden, man denke zum Beispiel an Informationsveranstaltungen zum Thema Depression. Andere Dienste sind psychologischem Fachpersonal vorbehalten; ausgebildeten Beratern, Psychologen, Psychiatern oder Ärzten, die im psychologischen Bereich geschult sind. Ich denke, unsere Besonderheit besteht darin, dass wir äusserst schnell spezialisierte psychologische Hilfe bieten können. Dabei richten wir uns danach, was eine Person braucht und was sie mithilfe der Unterstützung erreichen will. Bei Überlebenden von Gewalttaten geht es darum, das Geschehene zu verarbeiten. Psychosoziale Versorgung hängt also vom Kontext und dem Bedarf der Gesamtbevölkerung ab, aber auch die spezifischen Bedürfnisse einer Patientin oder eines Patienten sind ausschlaggebend. Denkbare Therapieformen sind zum Beispiel Gruppensitzungen, Peer-Support oder Einzelberatungen, die je nach Bedarf von unterschiedlichen Fachleuten angeboten werden können. Im vergangenen Jahr hat Ärzte ohne Grenzen 34 500 Einzelberatungen im Bereich der psychischen Gesundheit durchgeführt. Weltweit betrachtet, ist das eine beachtliche Zahl.

Hast du ein konkretes Beispiel?

Vor kurzem habe ich unsere Projekte in Athen und auf Samos in Griechenland besucht. Unsere Psychotherapeuten und Psychiater stehen dort Geflüchteten, Migranten und Asylbewerbern mit spezialisierten psychologischen Angeboten zur Seite.  Die Menschen, denen wir helfen, kommen etwa aus der Demokratischen Republik Kongo, Syrien, Afghanistan oder dem Jemen. Die meisten, wenn nicht alle, haben in ihren Herkunftsländern Traumatisches erlebt (Krieg, Entführung oder Folter) oder auf der Flucht zum Beispiel körperliche Gewalt erfahren.

Auch in Griechenland befinden sie sich in einer prekären Situation, ihre Grundbedürfnisse sind nicht gedeckt und Gewalt und Stress gehören zum Alltag. Viele von ihnen, die wir im Rahmen unserer Programme kennenlernen, sind zwar widerstandsfähig und versuchen, das Erlebte irgendwie zu verarbeiten. Doch das Leid ist enorm und unsere Teams waren kaum je mit einem solch hohen Bedarf an psychologischer Hilfe konfrontiert.  Vor Ort gibt es jedoch nur sehr wenige Akteure, die spezialisierte Leistungen anbieten. Es ist zu hoffen, dass bald mehr Organisationen diese spezifischen psychologischen Dienste bereitstellen.

Welche besonderen Herausforderungen gibt es angesichts des Kontexts und der betroffenen Bevölkerung?

Das Hauptproblem ist, wie bereits erwähnt, der Mangel an Gesundheitsdienstleistern. Eine weitere Schwierigkeit ist, dass psychische Gesundheit nicht losgekoppelt ist vom Rest des Lebens. In den meisten Fällen sind auch andere Bedürfnisse der Menschen – wie Essen, Trinkwasser, Unterkünfte oder Sicherheit – nicht gedeckt. Es ist bekannt, dass unsere pysischen Bedürfnisse gestillt sein müssen, damit wir uns auf psychischer Ebene wohlfühlen. Als medizinische Hilfsorganisation können wir jedoch leider nicht immer alle Lebensbereiche unserer Patientinnen und Patienten beeinflussen.

In den Einsatzgebieten von Ärzte ohne Grenzen können Tabus vorherrschen. Wie gehen die MSF-Teams mit Stigmata in Bezug auf mentale Gesundheitsthemen um?

In der Regel organisieren wir Veranstaltungen zum Thema psychische Gesundheit. So gehen wir Tabus und Stigmatisierung an und führen Gruppendiskussionen durch, auch auf Gemeindeebene. In Schulungen werden Gesundheitsmitarbeitende, Gemeindeleiter aber auch Lehrerinnen und Lehrer für psychische Gesundheit sensibilisiert. Das hilft ihnen, mögliche Vorurteile zu korrigieren und ihr Wissen über psychische Gesundheit zu erweitern. Auch lernen sie, zu erkennen, wer möglicherweise Hilfe benötigt. Viele Menschen, die in Behandlung sind, stellen bei sich und anderen auf psychischer Ebene Fortschritte fest. Auch das ist der Bekämpfung von Stigmata zuträglich. Zusammengenommen ermöglichen diese Aktivitäten einen offenen Dialog über mentale Gesundheit und geben Betroffenen den Raum, Unterstützung anzunehmen. Am Ende ist es wichtig, Menschen effiziente, wirkungsvolle Hilfe zu ermöglichen.

Wie hat sich die psychische Gesundheitsfürsorge entwickelt? Und wohin geht es in den kommenden Jahren?

Im vergangenen Jahrzehnt hat es beachtliche Fortschritte bei der Wahrnehmung von psychischen Bedürfnissen gegeben. Auch ist man sich der Lücken immer mehr bewusst geworden. Heutzutage befassen sich Regierungen, Spenderinnen und Spender sowie die internationale Gemeinschaft viel stärker mit der Thematik. Deshalb heisst die diesjährige Kampagne zur psychischen Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation auch: «Mental health care for all: let's make it a reality».

Der Fokus liegt nicht nur auf dem Mangel an hochwertigen Diensten, sondern auch auf den Bemühungen und Fortschritten, die einzelne Länder unternommen und erzielt haben. Im Zuge der Covid-19-Pandemie wurde die psychische Gesundheit als Schlüssel für das allgemeine Wohlbefinden anerkannt. Dementsprechend wurde in die Aufrechterhaltung und Ausweitung psychologischer Angebote investiert. Es gab zahlreiche Innovationen bei den psychologischen Leistungen auf Abstand. Dies ist erfreulich, denn «Remote-Dienste» sind für verwundbare Bevölkerungsgruppen auch in Zukunft relativ gut zugänglich.

In den kommenden Jahren werden menschengemachte Naturkatastrophen wohl weiterhin enormes menschliches Leid verursachen. Es wird an den Regierungen und Hilfsorganisationen sein, effizient darauf zu reagieren. Auch die Resilienz der Gemeinschaften und das Engagement lokaler Akteure und freiwilliger Helfer werden für den Schutz gefährdeter Menschen eine übergeordnete Rolle spielen.

Was hast du noch auf dem Herzen?

Ich möchte die humanitären Werte, die Professionalität und das Engagement würdigen, die unsere Mitarbeitenden im Bereich der psychischen Gesundheit weltweit an den Tag legen. Dank ihres Einsatzes können wir Notleidende so gut versorgen, wie wir es derzeit tun.

Portrait de Marcos Matías Moyano, référent en santé mentale pour MSF

Marcos Moyano, Experte für psychische Gesundheit

© Salam Muharam/MSF