Mario, 18-jährig: «Wenn ich es in die USA schaffe, möchte ich Küchenchef werden.»
© Christina Simons
Mexiko4 Min.
Jedes Jahr macht sich eine halbe Million Menschen aus dem sogenannten Nord-Triangel Zentralamerikas (Honduras, El Salvador und Guatemala) – eine der Regionen mit den höchsten Gewaltraten weltweit – auf den Weg nach Mexiko. MSF arbeitet seit 2012 in den Notunterkünften entlang der Route und bietet den Migrantinnen und Migranten eine medizinische und psychologische Grundversorgung. Die MSF-Teams dokumentierten zahlreiche Fälle von gewaltsamen Vertreibungen, von Verfolgung, sexueller Gewalt und Zwangsrückführungen.
Das Ausmass der Gewalt im Nord-Triangel ist vergleichbar mit der Gewalt in Kriegsgebieten. Der gleichen allgegenwärtigen Gewalt, welche sie zur Flucht aus ihrer Heimat getrieben hat, begegnen die Menschen auch wieder auf ihrer Reise durch Mexiko. Sie werden Opfer krimineller Netzwerke, die oft Verbindungen zu den staatlichen Behörden unterhalten. Die Migrantinnen und Migranten riskieren, entführt, erpresst, sexuell missbraucht, gefoltert und hingerichtet zu werden. Die Reise des 18-jährigen Mario* aus Honduras ist ein trauriges Beispiel für die herrschenden Zustände. Er wurde an verschiedenen Orten entlang der Migrationsroute in Mexiko Opfer von Drohungen, Angriffen und Missbrauch. Bis zu seiner Ankunft in der MSF-Notunterkunft in Reynosa, Mexiko, war er pausenlos in Gefahr.
Eine kafkaeske Flucht vor der Gewalt
Die Ankunft in der Notunterkunft war für Mario, der auf seiner Reise in die USA seit Wochen ums Überleben gekämpft hatte, eine Erlösung. Er ist zwar unversehrt, fühlt sich aber dennoch so, als hätte man ihn körperlich verletzt. Mit einem nervösen Lächeln erzählte er uns, dass er Honduras verlassen musste, weil die «Maras» versucht hatten, ihn zu töten. Er liess seine Mutter zurück und floh zusammen mit einer Cousine, die er unterwegs, kurz bevor er in Tenosique im Süden Mexikos in den Zug stieg, verlor.
Während er in der Notunterkunft Essen ausgibt, erzählt Mario, wie es geschah, dass er seine Cousine verlor: «Es war Nacht und wir konnten erst am nächsten Morgen den Zug nehmen. Plötzlich tauchten Männer auf. Sie berührten ihr Gesicht und hielten eine Waffe gegen meinen Arm. Deshalb fühlt es sich jetzt manchmal an, als habe jemand auf mich geschossen.»
Sie brachten meine Cousine weg und vergewaltigten sie. Ich floh und konnte ihnen entkommen, aber ich habe meine Cousine danach nicht mehr wiedergefunden.
Mario erzählte uns auch, wie sie von Kindern ausgeraubt wurden: «Sie zogen plötzlich Waffen hervor und nahmen uns alles weg.» Auch diese Kinder wollten in die USA.
Ein Ort, um sich ein wenig zu erholen
Als er mit dem Bus in Reynosa ankam, konnte Mario einen Taxi-Chauffeur überzeugen, ihn zur Unterkunft zu bringen. Er belog ihn und behauptete, er sei kein Migrant, sondern gekommen, um Interviews zu führen. «Der Chauffeur fragte mich die ganze Zeit, ob ich aus einem anderen Land käme, also zeigte ich ihm ein Notizbuch. Ich musste ihn überzeugen, dass ich in der Unterkunft Umfragen durchführen würde.» Der Taxi-Chauffeur gab zu, dass er Mario an Kriminelle, die an der Grenze Migranten kidnappen, verkauft hätte, wäre er ein Migrant gewesen.
Seit seiner Ankunft kocht Mario für die Unterkunft. Seither geht es ihm psychisch etwas besser. Er ist leidenschaftlicher Koch und träumt von seinem eigenen Gastronomiebetrieb. Heute gibt es Reis, Bohnen und Tamales. Wer noch hungrig ist, erhält einen grosszügigen Nachschlag.
Nachdem Mario fertig serviert hat, wäscht er sich die Hände und fährt fort: «Es ist so viel passiert. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich es bis hierher geschafft habe. Die ersten Tage waren schwierig. Ich war traurig und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich habe mich komplett von der Aussenwelt zurückgezogen. Dann hatte ich die Idee, in der Küche zu helfen. Jetzt koche ich für alle und gebe das Essen aus.»
Mario fühlt sich besser, aber er weiss nicht, wie er in die USA gelangen kann. «Bevor ich nach Reynosa kam, habe ich in einem Blumenladen gearbeitet. Aber die Chefin hat begonnen, mich auszubeuten, dann hat sie mich entlassen. Ich konnte trotzdem ein wenig Geld sparen. Ich warte nun, bis mein Onkel in den USA mir sagt, dass ich kommen kann. Aber ich habe schon seit Längerem nichts mehr von ihm gehört.»
Die psychologischen Sprechstunden wirken sich positiv aus
«Bei meiner Ankunft war ich sehr unruhig, deshalb wandte ich mich an den Psychologen von MSF. Man erklärte mir, dass allein die Dinge, die ich in meinem Heimatland erlebt hatte, schädlich für meine psychische Gesundheit waren. Wir haben in den Sitzungen verschiedene Themen angesprochen. Es tut gut, meine Erlebnisse jemandem anvertrauen zu können. Davor konnte ich niemandem von diesen Dingen erzählen. Ich schlafe jetzt besser und bin weniger traurig. Aber ich spüre immer noch die Waffe an meinem Arm. Dieses Gefühl ist geblieben. Deswegen muss ich mich auch um meine körperliche Verfassung kümmern, selbst wenn ich keine sichtbaren Verletzungen davongetragen habe.»
Der Abend neigt sich dem Ende zu und Mario wischt die Tische ab. Mario verbringt gerne Zeit in der Küche, weil er hier seiner Leidenschaft nachgehen und diese mit anderen Menschen teilen kann. Er möchte in den USA in einem Restaurant arbeiten und vielleicht irgendwann Profikoch werden.
* Der Name wurde aus Sicherheitsgründen geändert.
Ziel des MSF-Projekts in Reynosa im Bundesstaat Tamaulipas, Mexiko ist es, an verschiedenen Orten der Stadt kostenlos und vertraulich umfassende Gesundheitsdienste (Grundversorgung sowie psychologische und soziale Betreuung) anzubieten.
Ein mobiles MSF-Team, bestehend aus einem Arzt, einer Pflegefachfrau und einem Psychologen, bietet ausserdem in verschiedenen Gesundheitszentren der Stadt sowie in Notunterkünften für Migranten zusätzliche Sprechstunden an, um eine qualitativ hochwertige medizinische und psychologischen Betreuung der Bevölkerung zu gewährleisten.
© Christina Simons