Sudan: «Ich hoffe auf Frieden für die Menschen im Sudan.»
© Majd Aljunaid/MSF
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Kurz nach Beginn des aktuellen Konflikts im Sudan wurde die Stadt El Geneina, die Hauptstadt des Bundesstaates West-Darfur, zu einem Schauplatz der Kämpfe. Dort unterstützte Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF) seit 2021 das Universitätskrankenhaus, insbesondere die pädiatrische Versorgung. Wegen der unsicheren Lage mussten wir jedoch unsere Aktivitäten in El Geneina einstellen. Fleur Pialloux war unsere Projektkoordinatorin in El Geneina. Sie ist vor Kurzem aus dem Sudan zurückgekehrt und berichtet von den Tagen, in denen alles auf den Kopf gestellt wurde.
Augenzeugenbericht von Fleur Pialloux, Projektoordinatorin im Sudan
Mein Name ist Fleur Pialoux. Noch bin ich Projektkoordinatorin im Lehrkrankenhaus von El Geneina in West-Darfur. Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF) unterstützt dort seit 2021 die pädiatrische Abteilung. Bald geht mein Einsatz zu Ende.
Als ich aufwachte, waren die Nachrichten überall: Kämpfe in Khartum. Völlig überrascht hat mich das nicht. Seit Monaten verfolge ich den Kontext und den politischen Wandel. Ich halte Truppenbewegungen und viele andere Aspekte genau im Auge. Dass ein Konflikt sich anbahnte, ahnte ich längst. Doch wie gerne wäre ich falsch gelegen.
Mein Vorhaben für die letzten drei Wochen in El Geneina
Der Konflikt brach aus und wirbelte meine letzten drei Wochen komplett durcheinander. Ich hatte geplant, sie mit dem Schreiben meines Übergabeberichts zu verbringen.
Der aktuelle Masernausbruch spielte dabei eine wichtige Rolle. Er liess sich nicht zurückdrängen, und ich hatte vor, mich bei den Behörden für die Durchführung von Impfkampagnen einsetzen. Gemeinsam mit meinem Team wollte ich Notfallpläne für den bevorstehenden saisonalen Höhepunkt von Malaria und Mangelernährung ausarbeiten. Ausserdem arbeiteten wir an einer neuen Strategie zur Unterstützung zweier neuer Abteilungen im Spital: der Neonatologie und der Entbindungsstation.
Ganz besonders freute ich mich auf unser grosses Mitarbeitenden-Fest mit den köstlichen Häppchen und der sudanesischen Musik. Es sollte gleichzeitig eine Art Abschiedsparty für mich werden. Zwar würde ich meine Aufgaben noch bis zur letzten Minute wahrnehmen, aber mein Nachfolger stand bereits in den Startlöchern, um ein reibungslose Übergabe sicherzustellen.
Was wirklich geschah
Am Samstag, den 15. April, versammelte ich das Team, das mit mir in der Wohnung von Ärzte ohne Grenzen wohnte, und informierte es über den Konflikt. Wir hatten einen Plan zur Risikominderung für den Fall, dass die Situation in El Geneina eskalieren würde.
Der erste Schritt bestand darin, dafür zu sorgen, dass sich die Mitarbeitenden so wenig wie möglich auf der Strasse aufhielten. Wir kontaktierten unsere Kolleg:innen im Büro und baten sie, am nächsten Tag nicht zur Arbeit zu kommen. Die Grundversorgung im Spital wurde durch Mitarbeitende abgedeckt, die einen möglichst kurzen Arbeitsweg hatten. Wir richteten einen Telefonplan ein, um sicherzustellen, dass wir in diesen unsicheren Zeiten regelmässig mit allen Kolleg:innen Kontakt aufnehmen konnten.
In der Personalwohnung sorgten wir schnell dafür, dass wir mit Lebensmitteln, Wasser und lebenswichtigen Gütern versorgt waren. Danach harrten wir 14 Tage lang in dem Haus aus.
Die erste Woche verlief ruhig im Vergleich zur Gewalt in Khartum und Städten in Darfur wie El Fasher und Nyala. Die internationalen Kolleg:innen anderer Organisationen wurden evakuiert, aber wir blieben zunächst und hofften darauf, dass die Ruhe anhalten würde.
Am 20. April, dem Tag des Eid-al-Fitr, flohen alle verbliebenen Patient:innen und Mitarbeiter:innen aus dem Spital. Sie rannten um ihr Leben. Mehrere Mitarbeitende der Spitalverwaltung taten alles, was sie konnten, um den Betrieb der Einrichtung aufrechtzuerhalten. Sie wurde dennoch geschlossen.
Am 24. April erreichte der Konflikt El Geneina. Bewaffnete Gruppen begannen, wichtige Orte in der Stadt ins Visier zu nehmen. In den folgenden Tagen brachen die Kämpfe in den meisten Stadtteilen aus. Plünderungen auf dem Markt, im Spital, in Apotheken und in Autos waren an der Tagesordnung. Gerüchte und Hassreden machten in den sozialen Medien die Runde.
Von unseren Fenstern aus sahen wir, wie Rauch aus Häusern drang, die mehr als 100 000 Vertriebene beherbergt hatten und bis auf die Grundmauern niedergebrannt wurden. Überall in der Stadt waren die Menschen tagelang ohne Strom und Wasser. Die Mobilfunknetze brachen zusammen, Banken mussten schliessen und konnten keine Zahlungen mehr abwickeln. So hatten viele Menschen keinerlei Mittel zur Hand, um lebenswichtige Dinge wie Essen, Kraftstoff oder Medikamente zu kaufen.
Hunderte von Menschen wurden verwundet oder getötet. So gut wie alle medizinischen Einrichtungen waren nicht mehr funktionsfähig.
Wir verbrachten mehrere Nächte auf dem Boden und hatten das Privileg, Zugang zu einem Bunker zu haben, während die Stadt unter Beschuss stand. Ich verbrachte die letzten Wochen meines Einsatzes damit, 15 Stunden am Tag zu arbeiten, Daten abzugleichen, aktuelle Informationen zu geben, Risiken abzuschätzen und eine mögliche Evakuierung in den benachbarten Tschad vorzubereiten.
Die aktuelle Situation
In dem Moment, als das letzte Mitglied unseres Teams die Grenze zum Tschad überquerte und von den Kolleg:innen dort in Empfang genommen wurde, verspürte ich grosse Erleichterung. Ich hatte Tage voller Angst, Stress und Ungewissheit hinter mir. Schuldgefühle plagten mich, weil wir das Land verlassen konnten, während unsere sudanesischen Kolleg:innen und Patient:innen – ohne medizinische Versorgung – weiter in El Geneina ausharren mussten.
Und ich trauerte darum, dass die monatelangen Bemühungen um das Lehrkrankenhaus in El Geneina und unsere Ambitionen, noch mehr Menschen den Zugang zu lebensrettender Versorgung zu ermöglichen, in Schutt und Asche gelegt worden waren. Ich hatte Mitgefühl mit den wenigen sudanesischen Kolleg:innen, die evakuiert worden waren, die aber Angst um Familienmitglieder haben mussten, die an Orten wie Khartum zurückblieben.
Ich arbeite seit mehreren Jahren Seite an Seite mit Vertriebenen und habe viele ihrer Geschichten gehört. Nach meinem Erlebnis im Sudan wurde mir ganz unmittelbar klar, dass Sicherheit und Geborgenheit die Grundlage aller menschlichen Bedürfnisse sind. Die Suche danach lässt uns Menschen nahezu alles andere ertragen.
Wieder zuhause
Mittlerweile bin ich wieder zu Hause. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass Ärzte ohne Grenzen sich weiterhin für die medizinische Versorgung in West-Darfur einsetzt.
Ein spezialisiertes Notfallteam ist unterwegs, medizinische Hilfsgüter ebenso. Damit kann wenigstens ein Teil des immensen medizinischen Bedarfs in der Region gedeckt werden.
Malaria und Mangelernährung sind auf dem Vormarsch. Sie warten nicht darauf, bis der Konflikt vorbei ist. Auch der tödliche Masernausbruch wird nicht von selbst abklingen. Mütter und Kinder sind nach wie vor am stärksten gefährdet.
Ob El Geneina oder das Grenzgebiet im Tschad – ich hoffe, dass ich eines Tages in die Region zurückkehren kann. Ich hoffe auf Frieden für die Menschen im Sudan. Und ich freue mich darauf, mit den Menschen dort wieder süssen Tee trinken zu dürfen und alles andere zu geniessen, was ich an dem Land immer so geliebt habe.
Bald – inshallah, wie wir im Sudan sagen.
Lebenslauf
Fleur Pialoux ist eine 30-jährige französische humanitäre Mitarbeiterin. Seit über sechs Jahren ist sie für Ärzte ohne Grenzen in verschiedenen Positionen im Einsatz – unter anderem im Südsudan, in der Ukraine, der Demokratischen Republik Kongo, dem Irak, Tansania und Guatemala. Sie ist die scheidende Projektkoordinatorin im Sudan, in El Geneina, der Hauptstadt von West-Darfur, wo sie Unterstützung für Betroffene organisierte. Ausserdem war sie für die Sicherheit des Teams und der Patient:innen verantwortlich.
© Majd Aljunaid/MSF